Engelsfuerst
mit dir, Francesco? Gegen dich muß Napoleon nach der Schlacht bei Waterloo ein Ausbund
an Lebensfreude gewesen sein. Hast du schlecht geschlafen?«
»Das habe ich, immerhin nimmt heute ein Freund
Abschied.« Francesco hob den Kopf, und jetzt war
seine Miene vorwurfsvoll. »Du bist nicht einmal beim
Frühstück gewesen!«
»Ich hatte keinen Hunger. Vielleicht liegt das am
Reisefieber.«
Der Vorwurf in Francescos Zügen wich einem flehenden Ausdruck.
»Willst du nicht doch lieber hierbleiben, Enrico?
Du hast Freunde hier. Wir alle sind deine Freunde.
Wir helfen dir, deine Probleme zu lösen. Deshalb haben wir uns zusammengefunden – um einander beizustehen und zu stärken, damit wir nicht an uns verzweifeln, sondern unseren Frieden mit Gott machen!«
Francesco sprach voller Leidenschaft; halb klang es
wie eine Predigt, halb wie eine Beschwörung, als wolle
der junge Mönch ihn vor einem schweren Fehler bewahren.
Enricos Gewissen regte sich. Er mochte Francesco
und hatte, wann immer es ging, das Gespräch mit ihm
gesucht. Doch jetzt wurde ihm dessen Anhänglichkeit
fast unheimlich. Bis eben war ihm nicht bewußt gewesen, wie sehr Francesco sich an ihn gebunden hatte.
Er legte beide Hände auf die Schultern des anderen.
Seltsamerweise zuckte Francesco zusammen, als empfinde er körperlichen Schmerz.
»Du kennst meine Probleme nicht, Francesco.«
»Weil du nicht mit mir darüber sprichst! Freunde
sind doch dazu da, daß man ihnen seine Sorgen anvertraut. Oder etwa nicht?«
»Stimmt schon, aber in meinem Fall ist das ein bißchen anders. Ich kann es dir wirklich nicht genauer
erklären. Es gibt nur einen Menschen, der mir jetzt
weiterhelfen kann, und das ist mein Vater.«
»Wenn das so ist, dann wünsche ich dir eine gute
Reise«, sagte Francesco traurig. »Ich hoffe, wir sehen
uns wieder.« Damit wandte er sich ab und schritt auf
das Kloster zu. Auf halbem Weg blieb er stehen und
drehte sich noch einmal um. »Paß gut auf dich auf!«
Enrico fluchte leise und war froh, daß ihn keiner
der Mönche hörte. Francesco hatte erreicht, daß er das
Kloster mit gemischten Gefühlen verließ. Wut auf den
jungen Mönch stieg in ihm hoch. Francesco hatte
doch nicht ernsthaft glauben können, daß er den Rest
seines Lebens in der Abgeschiedenheit von San Gervasio verbringen würde! Aber die Wut verrauchte
schnell. Was blieb, war das schlechte Gewissen.
Als ein Mann in Mönchskutte auf ihn zukam, dachte er erst, es sei noch einmal Francesco, doch dann erkannte er das zerfurchte Gesicht des Abts.
»Sie wollen uns also wirklich verlassen?« fragte
Tommasio. Enrico nickte. »Ich will mit dem alten
Maurizio runter nach Fiera fahren. Es macht ihm sicher nichts aus, mich mitzunehmen.«
Fiera war der nächstgelegene Ort am Fuße des Berges. Maurizio führte dort einen Gemischtwarenladen.
Einmal die Woche, immer donnerstags, kam er mit
seinem Lieferwagen zum Kloster hochgefahren, um
Lebensmittel und alles, was man sonst zum Leben
brauchte, anzuliefern.
»Ich bedaure, daß Sie uns verlassen, Enrico. Die
Rückführung hat doch einiges herausgebracht. Vielleicht sollten Sie den Weg weiter beschreiten, um sich
über Ihren Traum – Ihre Vergangenheit – klarzuwerden.«
»Ja, vielleicht, aber zu einem späteren Zeitpunkt.
Falls Sie dann noch bereit sind, mir zu helfen, Vater
Tommasio.«
»Jederzeit. Sie waren uns ein willkommener Gast
und werden es wieder sein, da bin ich sicher. Übrigens, da Sie nicht zum Frühstück gekommen sind, habe ich Ihnen etwas Brot und Käse einpacken lassen.
Ah, da kommt Ambrosio schon.«
Der hagere Koch trat neben den Abt und reichte
Enrico wortlos einen Brotbeutel. Sein Gesicht, ausdruckslos wie immer, verriet nicht, ob auch er Enricos
Abreise bedauerte. Ein asthmatisches Hupen, in das
sich das unregelmäßige Brummen eines Motors
mischte, tönte durch die Morgenstille. Sekunden später sahen sie Maurizios altersschwachen Lieferwagen
sich die letzten paar hundert Meter zum Kloster heraufquälen.
Auf Enricos Frage, ob er ihn mit nach Fiera nehmen könne, antwortete Maurizio, wortkarg wie stets,
mit einem knappen Nicken. Enrico half beim Ausladen der Waren, stellte seine abgewetzte Reisetasche in
den Laderaum und schwang sich auf den Beifahrersitz, der unter seinem Gewicht ungesund quietschte.
Tommasio machte mit der rechten Hand das
Kreuzzeichen. »Gott mit Ihnen, mein Sohn!«
Maurizio ließ den Motor an; das laute, unrunde Geräusch klang in Enricos Ohren wie das Knattern
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