Engelsfuerst
direkt auf ihn zu. Enrico griff nach seinem Ast und
wollte aufstehen, aber da war der andere nur noch
zehn Meter von ihm entfernt und brachte das Gewehr
in Anschlag.
»Stehenbleiben und nicht bewegen!« rief er. »Sonst
drücke ich ab!«
Enrico sah ein, daß er verloren hatte, und gehorchte. Mit seinem lädierten Fuß war er ohnehin bewegungsunfähig. Vielleicht lähmte ihn auch die Überraschung, denn der ihn da mit der Waffe bedrohte, war
Bruder Ambrosio!
Statt des Mönchsgewands und der Sandalen trug er
ein kariertes Hemd, eine Outdoorweste sowie die festen Hosen und die Stiefel, die Enrico schon vorher
gesehen hatte. Ambrosio hielt das Gewehr so sicher
auf Enrico gerichtet, als sei es ihm ebenso vertraut wie
die Bibel. Auch jetzt war sein hageres Gesicht völlig
ausdruckslos. Allerdings wirkte das in dieser Situation
nicht wie Teilnahmslosigkeit, sondern wie die Gelassenheit eines Mannes, der genau weiß, was er tut, und
der sich nicht scheut, andere Menschen zu töten.
Ein zweiter Mann kam den Abhang herunter, auch
er ein Mönch in ungewohnter Zivilkleidung. Bruder
Giuseppe, der im Kloster für Reparaturen aller Art
zuständig war, hatte aufgrund seiner gedrungenen Gestalt und seines Vollmondgesichts auf Enrico immer
einen behäbigen Eindruck gemacht. Davon war nichts
mehr zu spüren, als er sich nun neben Ambrosio aufbaute und einen kurzläufigen Revolver auf Enrico
richtete.
Endlich fand der Gejagte seine Sprache wieder.
»Was soll das alles? Warum verfolgt ihr mich?«
»Du hättest das Kloster nicht verlassen sollen«, sagte Giuseppe mit seiner eigentümlich hohen Stimme,
die so gar nicht zu der gefährlichen Waffe in seiner
Hand passen wollte. »Hättest du auf Vater Tommasio
und Bruder Francesco gehört, wäre das alles nicht
passiert!«
»Wie konnte ich denn wissen, daß …« Ihm fehlten
die Worte, als er an den toten Maurizio dachte.
»Schluß mit dem Gerede!« befahl Giuseppe. »Ihr
habt uns schon genug Ärger gemacht, Maurizio und
du. Statt anzuhalten, rast er mit seiner alten Kiste in
den Wald! Ich hatte schon Angst, es könnte euch beide erwischt haben. Aber nun haben wir dich, und du
kannst mit uns kommen.«
»Wohin?«
»Erst zur Straße und dann zum Kloster. Was dachtest du?«
Enrico deutete auf seinen linken Fuß. »Den habe
ich mir verstaucht, wie es aussieht. Ich kann kaum gehen.«
Giuseppe gab sich unbeeindruckt. »Dafür bist du
eben ganz schön flink davongelaufen. Du wirst es
schon bis zur Straße schaffen, auch wenn’s ein bißchen weh tut.«
Angesichts der auf ihn gerichteten Waffen blieb Enrico nichts anderes übrig, als den Schmerz, der seinen
Fuß bei jedem Schritt durchfuhr, irgendwie zu ertragen. Ohne den Ast, auf den er sich wieder stützte, hätte er aufgegeben. Mehrmals stürzte er und zog sich
leichtere Blessuren zu, ohne daß Giuseppe und Ambrosio ihm zu Hilfe kamen.
Als sie das Wrack des Lieferwagens erreichten,
durfte er sich ausruhen. Die Mönche wechselten leise
ein paar Worte, bevor Ambrosio Enricos Reisetasche
aus dem Wrack nahm und allein weiter in Richtung
Straße ging. Giuseppe blieb, noch immer den Revolver in der Rechten, ein paar Schritte vor Enrico stehen
und sah zu, wie dieser sich auf einem Baumstumpf
niederließ.
Erst als er saß, wurde Enrico bewußt, daß es der
Baumstumpf war, der letztlich den Unfall verursacht
hatte. Trotzdem blieb er sitzen; sein Fuß war für jede
Schonung dankbar. Allerdings vermied er es, zu dem
Wrack hinüberzuschauen, wo hinter den größtenteils
kaputten Scheiben die Leiche Maurizios zu sehen war.
Ambrosio kehrte, das Gewehr jetzt über den Rükken gehängt, mit einem Metallkanister zurück, öffnete
ihn und schüttete den Inhalt über den zerstörten Lieferwagen. Der unangenehme Geruch von Benzin
kroch Enrico in die Nase, und er beobachtete Ambrosios Treiben mit wachsendem Abscheu. Ihm konnte
egal sein, was die Mönche mit dem Autowrack taten,
aber es war ihm zuwider, daß sie offenbar auch den
Leichnam des alten Kaufmanns verbrennen wollten.
Sie hatten Maurizio schon das Leben genommen, jetzt
brachten sie ihn und seine Hinterbliebenen auch noch
um eine würdige Beisetzung.
Von plötzlichem Zorn übermannt, sprang er auf
und rief: »Ihr seid keine Diener des Herrn! Ihr verstoßt gegen seine Gebote, tötet einen Unschuldigen
und mißachtet dann auch noch die Würde des Toten!«
Giuseppe warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Was
weißt du schon über uns? Wir verrichten das Werk
des Herrn
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