Engelsfuerst
die ausgestreckte Hand
seines Klosterbruders, um vom obersten Stück der
Leiter auf den Steinboden zu gelangen.
»Deine Kerze steht noch da unten, Francesco.«
Francesco sah durch die viereckige Öffnung hinunter in Enricos Verlies. Der Kerzenschein tauchte die
Gestalt des Gefangenen in flackerndes Licht. Der
Blick, den Enrico nach oben sandte, schien Francesco
zu durchbohren wie eine Feuerlanze. »Ich wollte ihm
wenigstens etwas Licht lassen«, erklärte Francesco.
»Oder glaubst du, Vater Tommasio hat etwas dagegen?«
»Vermutlich nicht.«
Giuseppe schloß die Luke und verriegelte sie. Jedes
Geräusch hallte von den Mauern des Glockenturms
wider, und jedes Echo erschien Francesco wie ein
Vorwurf Enricos.
Er fühlte sich unwohl in der Nähe des Kerkers und
beschloß, nicht auf Giuseppe zu warten. Langsam erklomm er die enge Treppe und trat hinaus ins Freie,
wo der scharfe Wind ihm Regennässe ins Gesicht
trieb.
Er senkte den Kopf nicht. Im Gegenteil, er stellte
sich aufrecht, mit ausgebreiteten Armen in den Wind
und hieß den Regen willkommen, als könne der ihn
von seiner Schuld und den quälenden Fragen reinwaschen.
Konnte der Verrat an einem Mann, den er noch vor
kurzem seinen Freund genannt hatte, ihn wirklich von
seiner großen Schuld erlösen? Konnte eine Sünde
durch eine andere getilgt werden?
»Ist das Unwetter dein Freund, daß du es so willkommen heißt?« fragte eine Stimme hinter ihm.
Erschrocken ließ er die Arme sinken und drehte
sich um. Vater Tommasio stand keine fünf Schritte
von ihm entfernt und schien sich ebenfalls nicht an
dem Regen zu stören.
»Ich war im Kerker, bei Enrico, wie du es gewünscht hast, Vater«, stammelte Francesco.
»Und? Wie geht es ihm?«
»Soweit ist er wohlauf. Nur der verstauchte Fuß bereitet ihm Schmerzen. Ich hoffe, die Salbe, die Bruder
Antonio mir für ihn gegeben hat, verschafft ihm Linderung.«
»Was hat er gesagt?« fragte Tommasio weiter, ohne
aus dem Regen in den schützenden Eingang des
Turms zu treten. »Berichte mir alles, Wort für Wort!«
Francesco gehorchte, wenn auch zögernd. So wie er
Vater Tommasio stets gehorchte, seit der ihn in seine
Obhut genommen hatte. Er durfte den Vater nicht
enttäuschen, nie mehr!
Der Abt nickte zufrieden, als Francesco mit seinem
Bericht geendet hatte.
»Es ist gut, daß du mir alles gesagt hast, mein Sohn.
Und doch wirkst du bedrückt. Warum?«
»Weil es vielleicht Sünde ist, wenn ich Enrico …«
»Wenn du ihn verrätst, ausspionierst? Meinst du
das?«
Francesco schaute betroffen zu Boden und schwieg.
»Was du tust, tust du zum Wohlgefallen des Herrn«,
sagte Tommasio. »Und du tust es, um die Schuld abzutragen, die du in der Vergangenheit auf dich geladen
hast. Du weißt, daß du eine der größten Sünden begangen hast, derer ein Mensch überhaupt fähig ist.«
»Ja, Vater, ich weiß«, antwortete Francesco mit
brüchiger Stimme.
Der Abt streckte den rechten Arm aus und zeigte
hinauf zur Spitze des Glockenturms. »Dann gehe hin
und büße, Francesco!«
Irritiert blickte Enrico, der nahe der Kerze auf dem
Boden saß, nach oben, als er undeutliche Stimmen und
dann das metallische Geräusch des Riegels vernahm.
Es waren erst wenige Minuten vergangen, seit Francesco ihn verlassen hatte. Kehrte der Mönch zurück,
weil er etwas vergessen hatte? Oder war er so beeindruckt von Enricos Worten, daß er dem Gefangenen
nun helfen wollte?
Die Hoffnung erlosch, als Enrico den Mann auf der
Leiter erkannte.
Tommasio stieg zu ihm herab, die Kutte regennass,
was den Abt jedoch nicht zu stören schien. Von oben
spähte Giuseppe durch die Luke. Tommasio gab ihm
einen Wink, und Giuseppe verschloß den Kerker wieder.
»Wie geht es deinem Fuß?« fragte Tommasio ungewohnt vertraulich, als er vor dem Gefangenen stand
und auf ihn hinuntersah.
»Francescos Salbe kühlt und lindert den Schmerz,
aber zu einem Marathonlauf werde ich mich in nächster Zeit nicht anmelden.«
»Warum heilst du die Verletzung nicht?«
Enrico runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Du könntest deine Fähigkeiten nutzen. Du hast
doch schon Menschen geheilt, oder nicht?«
Tommasio schien nicht wirklich eine Antwort auf
seine Frage zu erwarten. Er kannte Enricos Geheimnis, daran bestand kein Zweifel.
»Bin ich deshalb hier?« stellte Enrico eine Gegenfrage. »Weil ich ein Engelssohn bin?«
»Du bist nicht irgendein Engelssohn, dein Ahnherr
ist eins jener Wesen, die von den Menschen Erzengel
genannt werden.«
In den Worten
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