Engelsfuerst
mehrfach gezählt. Ein sinnloses Unterfangen, aber was sollte er anderes tun?
Giuseppe und Ambrosio hatten ihn, die Hände auf
den Rücken gefesselt, mit dem Geländewagen zurück
zum Kloster gefahren. Dort hatten sie ihn in den
Glockenturm am Rande der Bergkuppe gebracht, vor
dem er immer gewarnt worden war mit der Begründung, er könne jederzeit einstürzen. Sie hatten ihn eine enge, gewundene Treppe hinuntergeführt bis zu einer Luke im Boden und diese geöffnet. Nachdem seine Fesseln gelöst waren, hatte er eine wacklige Leiter
hinuntersteigen müssen in dieses fensterlose, finstere
Verlies, in dem er jetzt, wie es ihm vorkam, schon seit
Stunden ausharrte. Genau wußte er es nicht, weil seine
Armbanduhr bei dem Unfall kaputtgegangen war. Er
fühlte sich erschöpft nach der anstrengenden Flucht,
aber an Schlaf war nicht zu denken. Das heftige Stechen in seinem linken Fuß und sein innerer Aufruhr
ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.
Seine Gedanken kreisten um Maurizio und die
Männer, die ihn getötet hatten. Waren sie Mönche?
Waren sie Killer? Oder beides?
Enrico fand keine Antwort, zu befremdlich erschien ihm, was sich an diesem Morgen ereignet hatte.
Am seltsamsten aber erschien ihm der Grund für das
alles: Er sollte San Gervasio nicht verlassen.
Warum nicht?
Diese Frage stellte er sich wieder und wieder, bis
sein Kopf vom vielen Grübeln schmerzte.
Irgendwann hörte er über sich das metallische Klirren des Riegels, mit dem Giuseppe und Ambrosio die
Luke verschlossen hatten. Erwartungsvoll blickte er
nach oben. Die Luke wurde hochgeklappt, und das
Licht einer Lampe stach in seine Augen.
»Bleib ganz brav da sitzen, wo du jetzt bist!« ermahnte ihn Giuseppes helle, durchdringende Stimme.
»Dann passiert dir nichts.«
Ein Mann in Mönchskutte stieg ins Verlies herab.
Erst als er unten ankam, hatten Enricos Augen sich an
das Licht der Lampe gewöhnt, und er erkannte Francesco. Der Mönch wich seinem Blick aus.
»Bruder Francesco wird sich um deinen Fuß kümmern, also sei nett zu ihm«, sagte Giuseppe und fuhr,
offenbar an Francesco gewandt, fort: »In einer halben
Stunde komme ich zurück.«
Bevor Giuseppe die Luke wieder verriegelte, holte
Francesco aus dem Beutel, den er bei sich trug, eine
Kerze und Streichhölzer.
Als der Docht brannte, stellte er die Kerze auf den
Boden und sah sich in dem Raum mit den hohen, gewölbten Wänden aus unbehauenem Stein um. Ihm war
deutlich anzusehen, daß er sich gar nicht wohl fühlte.
»Das ist ein schrecklicher Ort«, sagte er schließlich.
»Es tut mir leid, daß du hier sein mußt, Enrico.«
»Mir tut es auch leid«, entgegnete Enrico sarkastisch. »Aber noch mehr bedaure ich, daß heute morgen ein Mensch getötet wurde. Maurizio. Von deinen
Klosterbrüdern, Francesco!«
Der schlug die Augen nieder. »Das alles habe ich
nicht gewollt. Hättest du doch auf mich gehört und
wärst nicht weggefahren, dann wäre das mit Maurizio
nicht passiert!«
»Du hattest also den Auftrag, mich zurückzuhalten.
Von wem, von Tommasio?«
»Ich … ich …«
Mehrmals setzte Francesco zu einer Antwort an,
aber ihm schienen die richtigen Worte zu fehlen. Enrico war kurz davor, ihn zu bedauern, aber dann sagte
er sich, daß der Mönch mit Maurizios Mördern gemeinsame Sache machte und absolut kein Mitleid verdiente.
Ein Seufzer entrang sich Francescos Brust. »Wärst
du doch einfach hiergeblieben!«
»Also bin ich schuld an Maurizios Tod?« rief Enrico wütend.
»So meinte ich das nicht.«
»So hat es sich aber angehört. Was für ein Verein ist
das hier, wo man erst Gast und dann Gefangener ist?«
Statt zu antworten, kniete Francesco sich vor ihn
hin. Er schob Enricos linkes Hosenbein hoch, bevor
er ihm den Schuh und die Socke auszog.
»Eine Schwellung, die noch zunehmen wird, wenn
man sie nicht behandelt«, sagte er fachmännisch und
holte eine handtellergroße Dose aus seinem Beutel, die
er öffnete und neben sich auf den Boden stellte.
Als Francesco begann, die Salbe aufzutragen, zuckte Enrico vor Schmerz zusammen, aber schnell stellte
sich eine angenehme, kühlende Wirkung ein.
Als nächstes holte Francesco Verbandszeug aus seinem Beutel und entrollte es vorsichtig. Er ging mit
großer Konzentration zu Werke.
Als er schließlich den Verband um Enricos Fuß
wickelte, sagte Enrico: »Du machst das gut.«
Eigentlich hatte er keinen Grund, freundlich zu
sein, aber am Ende tat Francesco ihm doch leid. Der
junge Mönch schien ehrlich zu bedauern, was geschehen
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