Engelsgesang
würde sich dieser Bursche vor Frauen nicht mehr retten können. Doch noch schien Ángel nichts von seiner Attraktivität zu ahnen. Hoffentlich hielt das weiterhin an. Wenn die Menschen erst mal von ihrer Macht wussten, die sie durch ihr äußeres Erscheinungsbild hatten, ging eine Menge des Zaubers verloren. So rein und unverdorben wie er war, lag noch die ganze Zukunft offen vor ihm. Mit dieser jugendlichen Anmut konnte er die Welt im Sturm erobern.
Ein kleiner Funke Eifersucht stieg in Wolfgang hoch. Er wäre so gern an der Stelle dieses Jungen. Zu gern würde er noch einmal von vorn anfangen, die Fehler, die er begangen hatte, ungeschehen machen. Einen geraden zielgerichteten Weg einschlagen.
Dieser hübsche Junge konnte das alles noch tun. Doch so wie es aussah, wusste er genauso wenig, in welche Richtung er gehen sollte, wie er seinerzeit, vor über dreißig Jahren. Dieser Junge durfte nicht die gleichen Fehler machen wie er. Das wäre die reinste Verschwendung. Er würde ihm, wenn Ángel es zuließ, helfend zur Seite stehen. Er konnte ihn an seiner Lebenserfahrung teilhaben lassen, ihn schützen und lenken.
Die Empfindungen, die in ihm wie eine Flutwelle aufstiegen, nahm er überrascht war, tat sie aber als Vatergefühle ab. Ja, eigentlich hatte er immer eine Familie haben wollen, doch es war nie dazu gekommen. Wahrscheinlich weckte dieser schutzbedürftige Junge genau diese Seite in ihm.
Wolfgang beugte sich noch ein Stück weiter vor. Der zerrissene Ausschnitt von Ángels Sweatshirt entblößte sein geschwungenes Schlüsselbein, und er musste einfach einen Blick darauf werfen. Wenn er Fotograf statt Musiker wäre, hätte er davon ein Foto gemacht. Dieses Bild, was der Junge bot, war inspirierend und auf seltsame Art verführerisch.
Der Lehnstuhl gab unter Wolfgangs Gewicht ein knarrendes Geräusch von sich und Ángels grün-braune Augen öffneten sich. Mit einem verträumten Ausdruck sah er ihn Sekundenbruchteile an, und augenblicklich verwandelte sich sein Blick in Verwunderung.
Wolfgang schnellte zurück. Er fühlte sich ertappt, so als hätte er etwas Verbotenes getan. Hatte er das nicht auch? Väterliche Gefühle! Dass er nicht lachte! Das, was ihn gerade ergriffen hatte, war alles andere, nur kein väterliches Gefühl.
„Ich rauch noch eine im Garten“, sagte er hastig und sprang auf. „Warte nicht auf mich.“ Mit zerfurchtem, um Jahre gealtertem Gesicht verließ er den Raum und schloss die Tür mit einem lauten Knall.
7.
7.
Martin saß auf der Treppe und wartete nun schon fast eine Stunde. Unmut breitete sich in ihm aus. Was fiel dieser Frau ein? Sie dachte wohl, sie konnte alles mit ihm machen? Eigentlich hatte er an seinem neuen Bild weitermalen wollen. Wenn er es bis zum angegebenen Termin nicht fertig hatte, würde Valerie ihm die Frist aufschieben müssen. Mindestens dieses Privileg war sie ihm schuldig, wenn sie ihn auch sonst nicht den anderen Studenten vorzog.
Wer war sie überhaupt, dass er sprang, sobald sie auch nur einen Finger bewegte?
Genervt fasste er seine Haare im Nacken zusammen und betrachtete die trockenen Spitzen. Eigentlich sollte er sie mal wieder schneiden lassen. Er achtete auf sein Aussehen, doch Valerie hatte ihm verboten, seine Haare anzurühren. „Die Haare eines Mannes müssen eine natürliche Form haben, wenn sie lang sind. Wenn du sie gerade schneidest, kann ich dich nicht mehr gebrauchen“, hatte sie ihm einmal unmissverständlich zu verstehen gegeben.
Er hatte sich immer an ihre Tipps und Vorgaben gehalten, denn er verdiente gutes Geld bei ihr. Nicht, dass er es wirklich brauchte. Er bekam genug von seinen Eltern. Doch über das Geld, was er von Valerie bekam, musste er ihnen keine Rechenschaft ablegen. Er kramte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche und zündete sich eine an. Zehn Minuten würde er noch warten, dann konnte ihn Valerie mal. Professor hin oder her.
Ungeduldig wippte er mit dem Fuß und lauschte auf die Motorengeräusche von der Straße. Als er das unverkennbare tiefe Brummen ihres Geländewagens hörte, breitete sich ein erwartungsvolles Kribbeln in ihm aus. Von Anfang an hatte er es in sich aufsteigen gespürt, wenn Valerie in seiner Nähe war. Mittlerweile brauchte er nur an die Dinge zu denken, die sie tun konnte, und das Gefühl überflutete ihn augenblicklich wie eine warme Dusche. Genau aus diesem Grund war er hier. Er mochte diese Frau nicht wirklich, aber sie hatte eine Macht über ihn, der er sich nicht entziehen
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