Engelsgesang
garantiert nicht noch einmal.“
„Das glaube ich auch“, flüsterte Ángel.
Sie umarmten sich, mit der Vorahnung, dass dies wahrscheinlich ihr letzter gemeinsamer Moment sein würde. Als es an der Tür klingelte, wies Wolfgang auf die Terrassentür. „Die Polizei … Du musst jetzt gehen. Klettere hinten über die Mauer. Ich möchte dich nicht mit in die Sache reinziehen.“
„Bist du dir da sicher?“
Wolfgang nickte.
Ángel lief durch das hohe Gras des verwilderten Gartens. Noch ein letztes Mal blieb er stehen und sah zurück. Wolfgang stand noch immer da, mit einer, zu einem letzten Gruß, erhobenen Hand, während eine einzelne Träne über sein gealtertes Gesicht rann.
70.
70.
Martin war verzweifelt. Er wusste nicht, wo er noch nach Ángel suchen sollte. Er hatte ihn weder bei Valerie noch bei Wolfgang gefunden. Bei letzteren hatte er sogar mehrfach vorbeigeschaut und Sturm geklingelt. Doch es hatte niemand geöffnet. Irgendwann erzählte ihm ein Nachbar, dass Herr Brandl heute Vormittag von einer Polizeistreife abgeholt worden war. Warum, konnte er ihm nicht sagen, doch Martin ahnte den Grund.
Beunruhigt fuhr er nach Hause.
Ob die Polizei sich auch bei ihm melden würde? Er hatte damals alle Spuren, die er auch nur ansatzweise hinterlassen hatte, beseitigt, aber wenn Wolfgang bei der Vernehmung seinen Namen nannte, wäre er sicher der nächste Verdächtige. War Ángel vielleicht auch schon bei der Polizei, um eine Aussage zu machen?
Das konnte er sich eigentlich nicht vorstellen. Frater Azurite hatte ihm versichert, dass er sich an nichts erinnern würde, was in den letzten Tagen vorgefallen war. Und da gehörten auch alle Geschehnisse mit seinem Vater dazu.
Die Grübelei hielt Martin die gesamte Nacht wach, und auch am nächsten Morgen war er zu keiner neuen Erkenntnis gekommen. Er musste entweder verschwinden oder abwarten, bis die Polizei oder besser Ángel bei ihm auftauchten. Und wie ein Feigling zu verschwinden, war nun wirklich nicht seine Art.
Als er gegen Mittag in die Küche ging, um zu frühstücken, hielt ihm seine Mutter einen handgeschrieben Briefumschlag entgegen. „Der ist heute für dich gekommen. Von einem Ángel? Ist das ein Freund von dir?“
Martin gab keine Antwort, riss seiner Mutter nur den Brief aus der Hand und stürmte in sein Zimmer zurück. Mit bebenden Fingern öffnete er den Umschlag und zog ein eng beschriebenes Blatt Papier heraus. Seine Augen glitten in fieberhafter Schnelligkeit darüber:
Martin,
ich weiß, was du getan hast. Obwohl du es vor mir verbergen wolltest, habe ich es heute Morgen in deinem Blick gesehen.
Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr mit dir zusammen sein, sosehr ich dich auch liebe.
Ich werde Deutschland heute noch verlassen. Bitte such’ mich nicht.
Bereue und stelle dich deiner Strafe. Lass nicht jemanden anders für de i ne Taten büßen . Komm zurück auf den ehrl i chen Weg, dann können wir uns auch irgendwann wieder sehen.
Du bist meine erste große Liebe. Durch dich habe ich erfa h ren, wer ich bin und wohin ich möchte. Dafü r bin ich dir ewig dankbar. Ich werde dich vermissen.
Ángel
Seine zitternden Hände zerdrückten das Papier. Trotz der Sonne, die durch das Fenster schien, wurde es um Martin finster, als er in seiner Erinnerung abtauchte:
Regen klopfte an die Scheiben, als er in der schicksalsträchtigen Nacht van Campen gegenüber gestanden hatte. Van Campen hatte gerade gelacht, einen schmutzigen Witz über seinen kläglichen Sohn gerissen, und Martin an den Kopf geworfen, dass er ihn ja nur ficken würde, weil dieser nicht imstande war, sich zu wehren. Gib zu , hatte er gesagt. Du genießt diesen wehrlosen, jungen Körper genau so wie ich. Und wie fandest du ihn, he? Habe ich ihn gut zugeritten?
Als sich van Campen dann umdrehte, um die Schulunterlagen nebenan zu verbrennen, war ihm eine Sicherung durch gebrannt. Ohne zu überlegen, hatte er die Champagnerflasche gepackt und sie auf van Campens Hinterkopf hinunter sausen lassen. Wieder und wieder. Er erinnerte sich, welche Genugtuung er empfand, als das hellrote Blut spritzte, und sich auf dem kostbaren Seidenteppich ausbreitete.
Nein, er fühlte keine Schuld.
Ángel hatte Recht. Er war von Grund auf schlecht. Das zeigten nicht nur seine Taten, das zeigte auch sein Umgang mit dem Satanistenzirkel. Er hatte schon vor langer Zeit den richtigen Weg verlassen, und Ángel tat nur gut daran, sich von ihm fern zu halten.
Er vergrub das Gesicht in seinen
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