Engelsgesang
konnte.
Valerie kam den Weg an der Garage entlang. Erwartungsvoll, ohne es bewusst wahrzunehmen, stand Martin auf und ging ihr einige Schritte entgegen.
„Hallo, Marty“, sagte sie und öffnete die schwere Metalltür ihres Bungalows. Sie trat ohne eine Erklärung, warum sie ihn so lange hatte warten lassen, ein und warf im Weitergehen ihren Mantel über einen Sessel.
Ernüchtert trat Martin hinter ihr in das offene ebenerdige Haus. Von der Diele aus konnte man in das Wohnzimmer, die Küche und ins Atelier sehen. Nur wenige Trennwände, an denen großformatige Fotos hingen, versperrten die Sicht zu ihren privaten Räumen. Doch auch diese kannte er. Das glänzend schwarz geflieste Bad hatte er schon bei seinem ersten Besuch kennen gelernt. Das kühle weiße Schlafzimmer mit dem riesigen schmiedeeisernen Bett erst nach einer Woche. Und genau in dieses Zimmer zog es ihn. Doch vorher würde Valerie sicher mit ihm arbeiten wollen.
Er legte seine Jacke ab und ging zur Bar. „Wie immer?“, rief er.
„Ja bitte“, erklang die Antwort aus dem fensterlosen Ankleidezimmer.
Martin mixte den John Collins mit routinierter Sicherheit. Sich selbst goss er einen Whiskey ein und ließ zwei Eiswürfel hineinfallen. Mit den Gläsern ging er ins Atelier und stellte sie auf dem kleinen Tisch neben der Couch ab. Dann zog er die dichten Vorhänge vor der großen Glasfront zu. Valerie belächelte ihn jedes Mal, wenn er das tat. Draußen war es schon dunkel und das wenige Licht, das durch die Fenster hereinfiel, würde die Aufnahmen nicht stören. Doch ihn machten die Fenster nervös. Er fühlte sich beobachtet, auch wenn er tausendmal wusste, dass sich dahinter nur ein riesiger japanischer Garten befand, der von einer hohen Mauer umgeben war.
„Zieh dich schon mal aus“, hörte er Valeries Stimme. „Wir fangen gleich mit ein paar Halbakten an.“
Während er das Hemd aufknöpfte, bemerkte er eine abgedeckte Staffelei. Valerie arbeitete immer an verschiedenen Dingen gleichzeitig. Dafür bewunderte er sie. Es war ihm rätselhaft, wo diese Frau die Energie und Zeit hernahm. Sie schien nie zu schlafen.
Neugierig lüftete er das Tuch und sah erstaunt auf ein angefangenes Portrait. Die grün-braunen Augen, die ihn aus dem jugendlichen Gesicht ansahen, kamen ihm unheimlich bekannt vor. Und während er noch grübelte, stieg langsam Erkennen in ihm hoch. Das konnte nicht sein. Diesen Jungen hatten sie doch gestern erst kennen gelernt. Er war das Nacktmodel, das so schnell davongerannt war. Wie kam es, dass Valerie schon ein Bild von ihm angefertigt hatte? Und dann auch noch so ein originalgetreues. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit verspürte er diesen bisher unbekannten Stich von Eifersucht in seinem Inneren.
Ein Glas klirrte hinter ihm.
„Bist du so weit?“ Valerie stand in einem grünen Seidenkimono da und sah ihm mit einer hochgezogenen Augenbraue entgegen.
„Was willst du denn mit dem?“, entfuhr es Martin.
Valerie sah ihn kühl an und ignorierte seine Frage einfach.
„Dein Hemd!“ Mit einer Hand wies sie auf ihn. „Ich dachte, du wärst bereit. Ich habe nicht ewig Zeit für dich.“
Verärgert zog Martin das Tuch über das Bild. Dass Valerie ihm eine Antwort schuldig blieb, war er gewohnt. Trotzdem wühlte dieses unangenehme Gefühl in ihm weiter.
Valeries eisgraue Augen beobachtete jede seiner Bewegungen, als er das Hemd abstreifte. „Was würdest du davon halten, dich noch einmal tätowieren zu lassen?“
„Noch mal?“, entfuhr es Martin. Seinen rechten Oberarm zierte schon ein filigranes geschlungenes Muster, das sich bis über die Schulter zog.
„Wieso, war es zu schmerzhaft?“, Valerie sah ihn immer noch kühl und abschätzend an.
„Es ging, äh,… ich meine, nein.“
„Gefällt es dir nicht mehr?“
„Doch, doch.“ Und wirklich, die dunklen Linien auf seiner Haut vereinten sich auf fast magische Weise mit den langen Strähnen seines schwarzen Haars.
„Ich werde es natürlich bezahlen.“
„Das ist es nicht …“, zögerte Martin.
„Fein“, unterbrach ihn Valerie. „Ich dachte da an ein Muster, das über den Rücken, die Brust, bis zu deinem anderen Oberarm wächst. Ich habe da ein Bild vor Augen … einen von Dornenranken überzogenen männlichen Körper, perfekt in Szene gesetzt. Mein nächstes Meisterwerk. Keine Angst“, ihre Fingerspitzen glitten über seinen Oberkörper und die winzigen Muskeln unter seiner Haut zogen sich zusammen, bis jedes einzelne Härchen aufrecht
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