Engelsgesang
stand. „Ich passe auf, dass du weiterhin kurzärmelig tragen kannst.“
Wie zufällig öffnete sich der Gürtel ihres Kimonos. Der grüne Stoff fiel leicht auseinander und entblößte ihre kleinen Brüste. Sie lächelte kalt, als sie Martins starren Blick wahrnahm.
„Du wärst dann einzigartig, weißt du, ein Original Jugan. Komm“, leise lachend zog sie ihn zu der schwarzen Fotoleinwand. „Lass mich ein letztes Mal deinen makellosen Körper fotografieren, bevor ich ihm meinen unverwechselbaren Stempel aufdrücke.“
„Deinen Stempel trage ich doch schon“, entgegnete Martin. Ein harter Ton schwang in seinen Worten. „Man kann ihn nur nicht sehen.“
„Ja, das kann schon sein“, sagte sie leichthin. Fast liebevoll strich sie ihm die Haare zurück. Doch die nächste Handlung setzte die Erste sofort wieder herab. Ihre Hände rückten zielstrebig und routiniert das Material für ihre Arbeit zurecht. Und das Material war gerade dieser schwarzhaarige Mann mit der auffällig blassen Haut.
„Vollblutkünstler können vor keinem Objekt, das ihnen gefällt, halt machen.“ Sie streckte ihre Hand aus und griff nach einer Kamera. „Bleib genau so! Ja, behalte auch diesen verletzten Gesichtsausdruck. Sehr schön“, sagte sie, während das Blitzlicht aufflammte.
8.
8.
„Ich werde ihm sagen, dass er morgen früh verschwinden muss. Wer bin ich denn, dass ich mir so was antue.“ Vor sich hinmurmelnd wanderte Wolfgang mit einer angezündeten Zigarette in der Hand im Garten herum. Ab und zu nahm er einen tiefen Zug, so dass die glimmende Spitze in der Dunkelheit aufleuchtete.
Er war sich der Anziehungskraft, die der Jungen auf ihn ausübte, mehr als bewusst, und das konnte er nicht zulassen. Mit einem Vater-Sohn-Verhältnis wäre er zurechtgekommen, aber nicht mit diesem Ding. Er verkehrte zwar in schwulen Kreisen, aber er gehörte nicht dazu. Nein, auf keinen Fall! Er stand auf Frauen. – Jedenfalls war das meistens so gewesen. Er erinnerte sich kurz an eine Begebenheit aus seiner Jugend, die er tief vergraben geglaubt hatte. Doch damals war er jung und neugierig gewesen, hatte Abenteuer gesucht. Diese Begebenheit war eine Ausnahme. Nie wieder hatte er auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet. Er war sich sicher: Männer machten ihn nicht an. Er war eindeutig heterosexuell und das bedeutete, dass Männer ihn nicht anmachen durften! Basta!
Dieser Junge war durch seine Jugend einfach noch nicht voll ausgebildet, ihm fehlten die typisch männlichen Attribute. Er wirkte einfach zu feminin, das musste einen ja verwirren … Immerhin hatte er seit über zwei Jahren keine Frau mehr gehabt … Er konnte diese ganze Sache einfach umgehen, indem er ihn wegschickte. Er war sich sowieso sicher, dass mit dem Jungen irgendwas nicht stimmte. Gestern Nacht hatte er im Schlaf geredet: „Nein! Nicht! Bitte, Vater!“, hatte er gejammert, so dass er sich sein Kissen über den Kopf ziehen musste, um weiterschlafen zu können. Je früher er den Jungen aus seinem Leben verbannen würde, umso besser. Dann wäre alles wieder wie vorher. Entschlossen drückte er seine Zigarette an der Mauer aus.
Kurz bevor er die Tür zu seinem Zimmer öffnete, hielt er noch einmal an, atmete tief ein und drückte erst dann die Klinke herunter. Das Zimmer war leer, doch aus dem Bad klang das Rauschen der Dusche. Steif setzte sich Wolfgang in seinen Schreibtischstuhl, legte die Fingerspitzen aneinander und wartete. Er hoffte, dass er dem Jungen seine Entscheidung auf möglichst freundliche Weise mitteilen konnte. Er war sich da aber absolut nicht sicher. Der Junge konnte nichts dafür, dass er ihn in dieses Wechselbad der Gefühle gestürzt hatte, das wusste er. Nichtsdestotrotz war Ángel der Auslöser.
Wenn man durch seine bloße Anwesenheit jemanden dazu brachte, eine Dummheit zu begehen, war man zwar nicht dafür verantwortlich, doch völlig unschuldig war man trotzdem nicht. Ángel musste mit den Konsequenzen seiner Ausstrahlung leben, und wie er das tat, lag nicht in Wolfgangs Verantwortung. Er würde den Jungen rauswerfen. Er würde schon wieder einen Unterschlupf finden. Das sollte wirklich nicht seine Sorge sein, und er musste sie auch nicht zu seiner machen.
Während er versuchte sein Gewissen zu beruhigen, erklang plötzlich eine Stimme, vom Rauschen des Wassers gedämpft, durch die Badezimmertür. Ein kleines unbewusstes Lächeln huschte über Wolfgangs faltiges Gesicht. Ángel sang. Bestimmt dachte er, dass er keinen
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