Engelsgesang
Er fühlte sich auf eine seltsame Weise in dessen Nähe wohl. Ángel hatte noch nie einen echten Freund gehabt. Vielleicht begann so eine wahre Freundschaft?
„Ich würde dir gern was zeigen.“
Der fragende Blick aus Martins Augen durchfuhr ihn wieder wie ein Schlag. Er griff nach hinten und lehnte sich an einen Grabstein. Hätte er das nicht getan, wäre er sicher geschwankt. Er hatte zu viel Alkohol getrunken …
„Zeig es mir.“ Martin trat einen Schritt zurück und Ángel hatte wieder das Gefühl, als würde ihn der andere freilassen, eine unsichtbare Fessel lösen. Er schüttelte dieses Gefühl mit einer leichten Bewegung seiner Schulter ab und ließ den Rosenkranz wieder unter seinem T-Shirt verschwinden. Dann sah er sich um, als müsse er sich zuerst orientieren. Aufmerksam schritt er den Hauptweg entlang. Bei einer Gablung wählte er einen, mit Gras überwachsenen Weg, der an der Mauer entlang führte. Hier befanden sich die großen Mausoleen. Ángel blieb einen kurzen Moment stehen und lief dann zielstrebig an einigen kleinen Gräbern vorbei, auf eine große verwitterte Gruft zu.
Dunkle Eiben flankierten das alte Grabmal. Ein paar Stufen, neben denen zwei weiße Engel in trauernder Haltung mit gefalteten Händen standen, führten zu dem überdachten Raum hinauf. Ángel war schon im Schatten der Gruft verschwunden, während Martin noch davor stand, und sie anstarrte.
Langsam schritt auch er die Stufen hinauf. Das hereinfallende Mondlicht reichte gerade aus, den kleinen Innenraum zu beleuchten.
In der Mitte des Raumes, in dem welkes Laub aus dem Vorjahr herumlag, stand ein steinerner Gebetsstuhl vor einem Kruzifix. An den Wänden hingen beschriftete sowie noch leere Grabplatten.
Martin sah sich um und versuchte, die Inschriften zu entziffern. Bei einigen waren die Buchstaben so verwittert, dass man kaum ein zusammenhängendes Wort entschlüsseln konnte. 1765 – 1822 stand auf einer Platte. Martin fuhr mit den Fingerspitzen über den alten Stein.
„Diese Gruft muss eine der Ältesten dieses Friedhofs sein. Soweit ich weiß, wurde er erst 1821 errichtet.“
Ángel antwortete nicht, und Martin sah sich weiter um. Auf einer weiteren Grabplatte konnte er einen Namen entziffern: Josef van Campen 1925 – 1998.
Verwundert sah er zu Ángel, der vor einer weißen Grabplatte kniete, die dicht über dem Boden eingelassen war. „Van Campen? Ist das etwa die Gruft deiner Familie?“
„Hier wurde meine Mutter begraben“, flüsterte Ángel. „Ich habe sie schon ewig nicht mehr besucht.“
Martin ließ sich neben ihm auf dem staubigen Boden nieder und strich mit seinen Fingern über den weißen Marmor.
„Sie war siebenundzwanzig, als sie starb“, sagte Ángel tonlos.
„Antonella van Campen, geborene Gonzales, 1976 – 2003 D.E.P.A. Was bedeutet das?“
„Meine Mutter hatte sich ein spanisches Begräbnis gewünscht. ‚Descanse en pas. Amen‘ – ‚Ruhe in Frieden’ ist das Einzige spanische, was er ihr zugestanden hat.“
„Er?“
„Mein Vater.“ Ángel spuckte diese Worte mit so einem Hass aus, dass Martin nicht weiter nachzufragen wagte. Doch er begann nach einer kleinen Pause, von selber weiter zu reden. Seine Stimme war fast zärtlich: „Sie wollte so gern zurück nach Spanien, in ihre Heimat. Sie hat die Sonne vermisst, das trockene Land, die Berge. Sie hat so viel darüber gesprochen … damals, als sie noch mit uns geredet hat …“ Ángels Kopf sank noch ein Stück tiefer und Martin ließ ihn trauern. Dann legte er ihm eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir leid.“ Mehr wusste er nicht zu sagen.
Ángel strich sich über die Augen. „Entschuldige, dass ich dir den Abend verdorben habe …“
„Ach komm. Was meinst du denn damit?“
„Na ja, du wärst bestimmt lieber bei dieser Biggi geblieben, wenn du gewusst hättest, dass meine Stimmung so in den Keller fährt.“
„Bei Biggi? Ganz bestimmt nicht! Außerdem musst du dich nicht entschuldigen. Ich habe dich hierhergeführt. In dieser Umgebung ist es doch kein Wunder, dass dich die Erinnerungen einholen. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich schon für Stimmungseinbrüche nach solchen Gelagen wie vorhin hatte.“ Martin grinste. „Die Leute haben schon recht: Keine Macht den Drogen.“
Ángel richtete sich auf. Sein Stand war unsicher. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. „Ich möchte nach Hause.“ Seine Stimme klang wie die eines weinerlichen Kindes, während er schwankte. „Könntest du ein Taxi
Weitere Kostenlose Bücher