Engelsgesang
nur einige Schritte in das weitläufige Foyer, dann blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Herz machte einen Aussetzer, bevor es schmerzhaft weiterstolperte.
Da war er: sein Traum! Überlebensgroß, halbnackt und leidend, in überirdischen Farben, stand er an einen Baum gefesselt, den Blick, sich seinem Schicksal ergebend, gen Himmel gerichtet. Das Foto erinnerte Wolfgang entfernt an ein altes Gemälde, das er irgendwann einmal in einem Bildband gesehen hatte. Ob die Ähnlichkeit Absicht war?
Versunken stand er da, starrte das Bild an, während neu eintreffende Gäste um ihn herumliefen.
Wie konnte ein Mensch nur so überirdisch schön und unschuldig aussehen? Alles was Wolfgang an diesem Menschen liebte, war in diesem Bild festgehalten worden: Jugend, Schönheit, Unschuld, Ergebenheit, Demut und der unerschütterliche Glaube an Gott. Genau so hatte er Ángel kennen gelernt. Die Künstlerin, wie herzlos sie ihm auch damals erschienen war, verstand eindeutig etwas von ihrem Fach, das konnte man nicht leugnen. Wolfgang stand wie versteinert da und konnte sich nicht von dem Anblick lösen. Erst als er von einem Gast versehentlich angerempelt wurde, wachte er aus seinem Tagtraum wieder auf.
Reiß dich zusammen, schimpfte er sich. Du bist nicht nur hier, um Fotos zu bewundern!
Seit einer Woche war Ángel nun schon verschwunden, ohne ein einziges Lebenszeichen von sich hören zu lassen. Wolfgang hatte jeden Tag damit gerechnet, dass er wieder kommen würde, zerknirscht und am Boden zerschmettert, weil die Reise mit diesem abscheulichen Grufti in einem Desaster geendet hatte. Bei dem kleinsten Geräusch sah er auf und erwartete, Ángel in seiner Zimmertür stehen zu sehen. Doch er wartete vergebens. Er kam nicht wieder. Wahrscheinlich amüsierte er sich irgendwo köstlich. Ohne ihn. Und warum auch nicht? Wahrscheinlich lachte er sogar über ihn und seinen peinlichen Eifersuchtsanfall, den er am Telefon gehabt hatte.
Die letzte Woche war furchtbar gewesen. Er hatte nicht mehr arbeiten und nicht mehr schlafen können. Er hatte sogar seine Schüler nach Hause schicken müssen. Stattdessen hatte er dagesessen und gegrübelt. Ihm war bewusst, dass er, ohne das Geld seiner Gitarrenschüler, die nächste Zeit mehr schlecht als recht über die Runden kommen würde, aber er hatte es einfach nicht ändern können. Seine Ruhe, seine Selbstsicherheit, seine gesamte Kreativität waren mit dem Jungen verschwunden. Keine einzige Note hatte er in der letzten Woche komponiert. Und wenn er zur Gitarre gegriffen hatte, dann nur, um dazusitzen und seine starren Finger über den Saiten verharren zu lassen.
Nun bestand seine letzte Hoffnung darin, Ángel hier zu treffen. Er wünschte sich, dass die innere Aufruhr, die dieses Bild in ihm hervorrief, bald verschwand. Er würde sich ansonsten wie ein Idiot benehmen, wenn er ihn sah.
Mühsam löste er sich von dem Bild und begann einen Rundgang durch die verschachtelten Gänge der großen Halle zu machen. Nach der Hälfte, die ihn an bunten sowie kontrastreichen schwarz/weiß Fotos in Großformat vorbeiführten, kam er zu einer Wand, die seine Aufmerksamkeit erneut in den Bann zog.
Hatte er wirklich geglaubt, Ángel wäre unschuldig?
Die Fotos, vor denen er jetzt stand, zeigten alles andere als Unschuld. Während er sie fast verschämt ansah, stieg Hitze in ihm auf und ließ sein Gesicht rot aufglühen. Er fühlte sich wie ein perverser Voyeur. Er konnte seine Reaktionen nicht leugnen. Die Darstellung auf den Bildern erregte und erschütterte ihn zutiefst, obwohl sie nur Aufnahmen vom Gesicht und dem bloßen Oberkörper zeigten.
Schnell wendete er sich ab und griff nach einem Sektglas, das von Kellnern auf Tabletts herumgereicht wurde.
Er war bestürzt über das, was die Fotos ihm offenbarten. Dass sie der Wahrheit entsprachen und eine neue Facette der Person zeigten, die er doch zu kennen geglaubt hatte, bezweifelte er nicht. Trotzdem schockierte ihn das Gesehene mehr als er erwartet hatte.
Was bildete er sich auch ein? Natürlich war der Junge nicht mehr unschuldig. Spätestens jetzt nicht mehr, nachdem er mit diesem verfluchten langhaarigen Bombenleger verschwunden war. Wer weiß, was sie die ganze Zeit getrieben hatten … Diese Bilder zeigten ihm Bruchstücke davon, die er niemals zu sehen gewagt hatte … jedenfalls nicht in einem öffentlichen Raum wie diesem, zwischen fremden Menschen … Er hatte sie sich vielleicht in seinen vier Wänden bei schummerigem Kerzenlicht erhofft
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