Engelsgesang
Blick auf den Mann zu werfen, der inmitten der Fotografen stand. Er erhaschte nur die Rückenansicht eines großen breitschultrigen Mannes mit blonden Haaren, die denen Ángels zum verwechseln ähnelten. Kein Zweifel, das musste er sein.
Die ganze Zeit, während er auf dem Podest stand und Valeries Frage- und Antwortspielen mit den Journalisten zuhörte, fluchte er leise vor sich hin. Warum hatte er nur zugesagt, sich als lebendes Kunstwerk zur Verfügung zu stellen? Die Muskeln seiner Arme schmerzten, dank der unnatürlichen Haltung, die er hatte einnehmen müssen. Er hätte in dieser Zeit wahrlich nützlichere Dinge tun können…
Im Hintergrund sah er Ángel mit Wolfgang an der Bar stehen. Sie unterhielten sich und jedes Mal, wenn Ángel bei Wolfgangs Späßen lachte, fuhr ein Dorn von Eifersucht in Martins Herz. Doch er musste zugeben, wirklich glücklich und entspannt sah sein Liebster nicht aus.
„… und ich danke meinem Kollegen Van Campen, der mir heute die Ehre seines Besuchs zukommen lassen hat. Ich freue mich, dass er mir die Möglichkeit gab, seinen Sohn ablichten zu dürfen …“, sagte Valerie gerade.
Ohne seinen Körper zu bewegen, sah Martin sich um. Van Campen war nirgends mehr zu sehen. Hoffentlich traf er ihn noch. Er wollte zu gern mal den Künstler kennen lernen, der einen eigenen Kunstzweig geschaffen hatte – lyrische Abstraktion. Er glaubte nicht, dass er jemals selbst etwas in dieser Kunstrichtung entwerfen würde … faszinieren tat es ihn trotzdem. Dann konnte er vielleicht auch etwas für Ángel und sein scheinbar riesiges Problem mit dem Beschaffen seines Zeugnisses regeln. Blitzlichter flammten auf und blendeten seine Augen.
„… diese zwei jungen Männer hinter mir symbolisieren den Untergang der moralischen Welt, so wie wir sie heute noch erleben dürfen“, erörterte Valerie gerade, ganz in ihrem Element. „Sehen Sie, ich liebe es, Kunstwerke zu erschaffen, umso mehr, wenn sie nur von kurzer zeitlicher Dauer sind. Der Mann zu meiner Linken versinnbildlicht die Unterwerfung, die wir unseren Körpern und Seelen widerfahren lassen…“
Martin stöhnte bei dem Unsinn, den Valerie von sich gab, auf. Hoffentlich musste er das nicht mehr lange ertragen. Sein Blick suchte die Bar nach Ángels Gestalt ab. Doch dort saß nur noch Wolfgang und drehte gelangweilt ein Sektglas zwischen seinen Finger.
Unruhe breitete sich in ihm aus. Das war eindeutig das letzte Mal, dass er Valerie einen Gefallen tat. Dieses gekünstelte Geschwafel über Dinge, von denen sie rein gar nichts verstand, konnte er nicht mehr ertragen. Er fühlte sich, als stände er auf glühenden Kohlen. Seine Beine begannen zu kribbeln, und er glaubte keinen Moment länger stillhalten zu können.
Hätte er vorher ein bisschen Dope gezogen, könnte er dies jetzt sicher besser ertragen. Aber er hatte Ángel versprochen, damit aufzuhören.
Als Valerie ihr Interview endlich beendet hatte und die letzten Fotos gemacht waren, zog Martin sich schnell die Kleidung über.
„Martin, könntest du mir noch Gesellschaft leisten und …“, fragte Valerie gerade, doch Martin war schon zwischen den Besuchern verschwunden. Enttäuscht drehte sie sich zu dem anderen jungen Mann um und lächelte ihm mit hölzernen Gesichtszügen zu. „Na, dann bleiben wohl nur noch wir zwei Schönen, Mark?“ Mit zwei jungen Männern hätte dieser Abend einen besonderen Abschluss gehabt, dachte sie. Aber sie war ja nicht völlig blöd. Sie hatte gemerkt, dass Martins Interessen in der letzten Zeit in eine völlig andere Richtung gingen. Und sie hatte ja schon viel eher als er gewusst, wohin. Nun ja, sollte er glücklich werden. Auf einen Liebhaber mehr oder weniger kam es ihr nun auch nicht an. Sie würde sich den Abend durch nichts vermiesen lassen. Van Campen hatte die Rolle gespielt, die sie ihm zugedacht hatte. Es würde phänomenale Schlagzeilen in der Tageszeitung geben, und das war doch genau das, was sie sich gewünscht hatte. Wozu sein süßer kleiner Sohn nicht alles nützlich war … Sie drehte sich um und strich mit ihrer hageren Hand über Marks Brustmuskeln. „Du bleibst hier, verstanden? Ich habe heute nämlich noch etwas Schönes mit dir vor!“
54.
54.
Ángel war völlig durcheinander. Die Besucher, die umherstanden, Sekt tranken, redeten und sich die Bilder anschauten, nahm er wie in einem Fiebertraum wahr. Die Angst, seinem Vater zu begegnen, saß wie ein Alb auf seiner Brust.
„Ich möchte gehen“, sagte er und sah
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