Engelsgesang
…
Blödsinn! Wohin die Blüten seiner Fantasie nun wieder trieben. Er litt eindeutig unter Schlafmangel. Da mussten selbst die stärksten Nerven irgendwann verrückt spielen.
Dennoch! Niemand, der diese Fotos sah, würde abstreiten können, dass in dem Jungen ein ungeheures Potential steckte. Hoffentlich lenkte es Ángel in die richtigen Bahnen. Was konnte aus dem Jungen nicht alles werden …
Wolfgang sah sich in der großen Halle um. Mittlerweile hatten sich viele Besucher eingefunden. Die Leute bildeten Grüppchen, lachten, redeten, betrachteten die Bilder … und Wolfgang fühlte sich plötzlich allein. Nichts war schlimmer, als unter vielen Menschen einsam zu sein. Er fühlte sich beobachtet, glaubte zu hören wie die Leute über ihn redeten: Schaut euch den nur an. Er ist in einen Jungen verliebt, der sein Sohn sein könnte. … geilt sich an den Fotos auf … ha t der Mann denn gar keinen Anstand?
Wolfgangkippte den Sekt in einem Zug herunter und griff sofort nach einem neuen Glas. Er würde sich durch niemanden vertreiben lassen, weder durch diese fremden Menschen, noch durch sein überempfindliches Gewissen. Er war hier, um Ángel zu treffen und er würde nicht eher gehen, bis er ihn gesehen hatte oder sicher war, dass er nicht mehr auftauchen würde.
Langsam begann er an den ausgestellten Fotos entlangzugehen, wich immer wieder herumstehenden Menschen aus, lächelte sein unsicheres Lächeln, bei dem er niemanden in die Augen sehen musste und suchte doch nur nach einem bestimmten Gesicht. Er hatte sich Worte zurechtgelegt, die er sagen würde, denn er wollte nicht so aussehen, als hätte er Ángel vermisst. Viel besser war es, wenn Ángel selber merken würde, was das Beste für ihn war - nämlich er - Wolfgang. Der Junge brauchte einen Menschen, der wusste, wo es im Leben lang ging. Er braucht jemanden, der ihn wirklich kannte … und liebte.
Sicher würde er Ángel die eine oder andere Affäre verzeihen müssen … immerhin war er noch jung. Er musste Erfahrungen sammeln, sich austoben, egal ob mit Frauen oder Männern. Er würde das schon verkraften, denn er war stark - für Ángel war er stark!
Er betrachtete gerade einige Fotos, die entfernt an Landschaftsaufnahmen erinnerten, bei denen es sich aber eindeutig um Akte handelte, als ihn eine Stimme, die er selbst im Schlaf erkennen würde, herumfahren ließ.
„Hi, Wolfgang!“
Wolfgang ließ fast sein Sektglas fallen. Ángel stand hinter ihm und lächelte. Spontan breitete Wolfgang seine Arme aus und umfing den Jungen stürmisch. „Ich bin so froh, dich hier zu treffen. Ich war mir gar nicht sicher, ob du kommst.“
„Wenn ich ehrlich bin … ich war mir auch nicht sicher.“
Wolfgang schob Ángel eine Armlänge von sich und musterte ihn. Er hatte Farbe bekommen. Seine Haut schimmerte in einem warmen Braunton. Trotzdem konnte dieser nicht von den bläulich-grünen Blessuren ablenken, die sein Gesicht zierten.
„Wer war das?“, platzte es aus ihm heraus.
„Eine kleine Auseinandersetzung“, erwiderte Ángel abweisend.
„Etwa mit diesem schwarzen Sargschläfer? Ich werde ihm …“ Suchend schaute er sich um. Martin kam gerade auf sie zu und ein breites Lächeln glitt über Wolfgangs Gesicht. Scheinbar hatte auch Martin Schläge einstecken müssen. „So wie er aussieht, hast du’s ihm auf jeden Fall zurückgezahlt“, grinste Wolfgang erfreut.
„Was meinst du?“, fragte Ángel gerade, als Martin ihm eine Hand um die Schulter legte. Das Lächeln auf Wolfgangs Gesicht erlosch und Enttäuschung breitete sich aus.
„Ach, das?“ Ángel wies auf sein und Martins Gesicht. „Das waren nur ein paar Typen, die …“
„… die dachten, sie könnten sich etwas nehmen, was ihnen nicht gehört“, beendete Martin den angefangenen Satz.
„Oh“, sagte Wolfgang und sah von einem zum anderen. „Euch geht es also gut?“
„Ja bestens. Ich habe so viel erlebt und muss dir alles erzählen“, sprudelte es aus Ángel heraus.
„Ja, sicher, sicher“, antwortete Wolfgang. Sein Gesicht war vor Anstrengung Fassung zu bewahren, ganz starr. „Aber das kannst du später machen. Sag lieber: wie steht’s mit deinem Gesang?“
„Er hat geübt, jeden Tag“, warf Martin ein. „Wirklich! Ich war dabei und habe ihn gehört.“
„Das freut mich“, sagte Wolfgang trocken. Er musterte Martin einen Moment und brauchte etwas Zeit, um sich wieder zu sammeln. Eigentlich hatte er Ángel die Neuigkeit erzählen wollen, wenn sie allein waren, aber
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