Engelsgesang
führte.
„Ángel, du hattest so recht. Dein Vater ist eine …“ Martin verstummte, als Wolfgang sachte den Kopf schüttelte.
„Kannst du uns nach Hause fahren? Angel braucht Ruhe!“, war das Einzige, das Wolfgang sagte.
Während der gesamten Autofahrt schwiegen die drei. Martin, der dieses Mal den Geschwindigkeitsbegrenzungen angemessen fuhr, sah fast jede Minute in den Rückspiegel, wo Ángel zusammengesunken da saß. Auch Wolfgang beobachtete Ángel aus dem Augenwinkel, obwohl er vorgab, aus dem regennassen Fenster in die Nacht hinauszusehen. Er konnte es nicht ertragen, den Jungen direkt anzusehen. Noch immer geisterten die grausamen Bilder durch seinen Kopf und riefen Scham und Ohnmacht in ihm hervor. Wenn die Erlebnisse ihn schon so stark mitnahmen, was ging dann erst in Ángel vor? Wolfgang wusste nicht genau, was vor seinem Eintreffen auf der Herrentoilette vorgefallen war, aber die Worte von van Campen und Ángels Resignation malten Bilder in seinem Kopf, die er nur zu gerne wegwischen würde. Doch es gelang ihm nicht. Jeder Seitenblick in Ángels Gesicht zeigte ihm, dass seine Ahnungen eventuell sogar zu harmlos waren.
Immer wieder schimpfte und verfluchte er sich im Stillen. Wenn er doch nur schon eher nach Ángel geschaut hätte … er hatte ihm doch gesagt, dass er seinem Vater auf keinem Fall begegnen wollte. Aber er hatte das als Unwichtigkeit abgetan und dadurch diese furchtbare Katastrophe heraufbeschworen.
Er konnte den Anblick des Jungen kaum ertragen. Ángel starrte leblos auf die Kopfstütze des Vordersitzes, während seine Hände unablässig das Kreuz seines Rosenkranzes hin und her drehten.
Martin wagte nicht zu fragen, was vorgefallen war. Er würde es schon noch früh genug erfahren. Wolfgangs Blick hatte ihn vorhin sofort zum Schweigen gebracht. Auch die Art, wie Wolfgang mit Ángel umging, zeigte ihm, dass wohl Fingerspitzengefühl und höchste Sensibilität angebracht waren.
In Wolfgangs Wohnung angekommen, setzte sich Ángel mechanisch auf seine am Boden ausgebreiteten Decke. Permanent drehte er das Kreuz zwischen seinen Fingern und schaukelte dabei vor und zurück.
Wolfgang kniete sich neben Ángel nieder. „Wie geht es dir?“ Vorsichtig fasste er ihn an der Schulter und zog ihn zu sich heran. Diese Berührung schien Ángel aus seiner Betäubung zu wecken.
„Fass mich nicht an“, zischte er. „Ich will nicht, dass mich noch einmal irgendjemand anfasst!“ Obwohl seine Stimme leise war, überschlug sie sich fast in ihrer Heftigkeit.
Wolfgang zog seine Hand schnell zurück und blickte Martin Hilfe suchend an. Dieser kramte eine Tüte mit Pillen aus seiner Hosentasche und suchte eine unscheinbare weiße Tablette heraus. Glücklicherweise war er Ángels Forderung nicht nachgekommen, seine Drogenvorräte zu entsorgen.
Er füllte ein Glas mit Wasser und setzte sich neben Ángel auf den Boden. „Hier nimm die. Sie wird dafür sorgen, dass du ein bisschen schlafen kannst.“
„Schlafen? Eine gute Idee … am besten für immer …“ Ángels Stimme war fast nicht mehr zu hören. Widerstandslos nahm er die Tablette und spülte sie herunter. Während er das Vor- und Zurückwiegen wieder aufnahm, begann er zu schluchzen. „Sie ist tot … wegen mir … und ich hatte ihr noch versprochen, mit ihr nach Spanien zu gehen …sie hatte sich so gefreut … und ich habe versagt …“
Martin schickte Wolfgang einen fragenden Blick zu, dem man ablesen konnte, dass er ihm nachher einige Antworten schuldig war. „Du hast keine Schuld. Komm, komm her zu mir“, tröstete er ihn und streckte seinem Freund einen Arm entgegen. Ángel machte keine Anstalten die Hand, wie vorhin bei Wolfgang, wegzuschlagen. Er ließ sich kraftlos gegen Martins Brust sinken.
Mit einem Ausdruck, dem man die Enttäuschung der eigenen Zurückweisung ansah, kramte Wolfgang eine Zigarette hervor. „Ich lass euch dann mal allein. Bin im Garten.“
Ein Zittern ging durch Ángels Körper und mit einem herzzerreißenden Seufzer brach sein ganzes Leid aus ihm heraus: „Ich bin Schuld … ich hätte an ihrer Stelle sein sollen!“ Sein Schluchzen wurde lauter und Ángel verfiel in einen Weinkrampf, der seinen Körper in heftigen Wellen erschütterte. Minutenlang hielt Martin ihn im Arm, sah ratlos auf ihn herab, während seine Hand mechanisch das blonde Haar streichelte. Nach etwa einer halben Stunde sank Ángel in sich zusammen, sein Weinen wurde leiser, allmählich verebbte es zu einem krampfhaften Schluchzen,
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