Engelsgesicht
den Frauen vor, als würden sie von einer Halloween-Fratze angegrinst.
Lisa winkte mit beiden Händen. »Kommt her!«, flüsterte sie. »Kommt alle in mein Reich! Heute ist der große Tag gekommen. Ich habe ihn vorgezogen. Heute werdet ihr erleben, wie es ist, Schönheit zu gewinnen. Sich durch das eigene Blut zu regenerieren. Für euch wird endlich der absolute Traum in Erfüllung gehen.«
Sie hatte genug gesprochen und wartete darauf, dass die sechs Frauen den Raum betraten. Wieder musste Silvia den Anfang machen, was sie gern tat.
Es war wie bei einer Schafherde. Sie war kaum vorgegangen, da setzten sich auch die anderen in Bewegung und schoben sich hinter Silvia Lintock über die Schwelle hinweg.
Es wurde eng. Der Blutgeruch drückte gegen die Frauen. Wenn sie atmeten, hatten sie das Gefühl, die Luft trinken zu können. Nicht jede der Frauen nahm es wie eine balsamähnliche Sauerstoffdusche wahr.
Es war zuerst Diana Crane, die leicht schwankte und sich an Silvia festhalten musste. Auch Elena ging es nicht gut, und Doris gab ein Stöhnen von sich.
Sie mussten sich erst an die neue Umgebung gewöhnen, aber das würden sie schaffen, da gab es keine Probleme.
Sie verteilten sich. Worte wurden nicht gewechselt. Jede von ihnen kannte dieses Ritual.
Lisa beobachtete die Frauen wie eine Königin die Untertanen. Dieser Vergleich gefiel ihr gut. Mit jeder Sekunde, die verging, wuchs auch ihr Ego.
Auf einmal hatte sie das Gefühl, nicht mehr Lisa Barton zu sein. Ihr normaler Geist floh, um einem anderen Platz zu schaffen. Aus den unendlichen Tiefen des Raumes oder auch der Hölle hatte sich ein anderer Geist auf den Weg gemacht, um sie zu treffen. Es war der oder die dunkle Seele einer gewissen Gräfin Bathory, die diese ›Verjüngungskur‹ erfunden hatte.
Lisa Barton stand zwar mit beiden Beinen auf dem Boden, sie hatte trotzdem das Gefühl, einfach abzuheben und wegzufliegen. Hinein in die Vergangenheit, in der es einfacher gewesen war, seinen Bedürfnissen und Plänen nachzukommen, wenn man die entsprechende Macht dazu besaß.
Die Blutgräfin hatte ihre Bediensteten ausgeschickt, um sich die jungen Weiber im gesamten Land zu holen. Unmengen von Blut waren vergossen worden, und Unmengen von Leichen hatte die Bathory hinterlassen.
Im Anfang waren die toten Frauen noch begraben worden. Später, als es dann immer mehr geworden waren, hatte die Gräfin sie einfach in die Verliese ihres Schlosses werfen oder wie Abfall auf Feldern ablegen lassen, als Beute für hungrige Wölfe.
Es war ihr Fehler gewesen. Zu viele Leichen, zu wenige Tiere, die so hungrig waren.
Andere Menschen hatten die Frauenleichen gefunden und damit das Ende der Gräfin und deren Verbündeten eingeleitet. Ihre Helfer waren von der Ordnungsmacht auf grausame Art und Weise getötet worden. Sie selbst aber hatte man am Leben gelassen. Die Bathory war eingemauert worden. Man hatte ihr ein besonderes Verlies gewidmet. Sie erhielt ihr Essen und Trinken durch eine schmale Öffnung.
Nach vier Jahren war sie dann gestorben oder elendig krepiert. Diesem Schicksal würde Lisa Barton entgehen. Sie wollte siegen, und sie würde siegen.
Aber sie brauchte auch die entsprechende Umgebung. Bis auf eine Kleinigkeit hatte Lisa versucht, sie so zu gestalten wie es damals gewesen sein konnte.
Die Nähe zum Foltermuseum war natürlich perfekt. Dass es einen Zugang zu diesem Raum gab, wussten nur wenige. Von diesem Raum aus gab es die geheime Tür, die in die Räume des Museums führte, in dem sich oft Menschen aufhielten, wenn es geöffnet war.
Etwa eine Minute war Lisa in ihre gedankliche Welt eingetaucht. In dieser Zeit hatten die Frauen genau gewusst, was zu tun war. Wie schon bei den vorherigen Malen hatten sie ihre Plätze eingenommen. Einige von ihnen saßen, andere standen noch, wie Silvia und Gwen, eine puppenhaft aussehende junge Frau mit einem sehr runden Gesicht und lockigen rötlichen Haaren.
Die Chefin war zufrieden. Sie deutete es durch ein Nicken an und lächelte dabei.
Es gefiel ihr nicht, dass die Tür zu ihren Wohnräumen noch geöffnet war. Sie ging hin und schloss sie leise. Dieses dabei entstehende Geräusch hatte für sie etwas Endgültiges. Wenn der Plan funktionierte, würde keine der Frauen mehr lebend den Raum hier verlassen. Dann musste sie sich nur noch in der Nacht um den Abtransport der sechs Leichen kümmern.
Wie damals die Bathory!
Sie drehte sich wieder um. Die Flammen züngelten zumeist steil in die Höhe. Nur einige von
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