Engelsgrube - Almstädt, E: Engelsgrube
spät für uns.«
»Dass du mich genauso liebst wie sie, das war eine ständig zitierte Lüge. Eine leere Phrase, nichts weiter.« Die Wut, der alte Schmerz brachen plötzlich aus ihr hervor. Sie war es leid, unter Verschluss zu halten, was doch längst auf der Hand lag. Dieses Mal sollte er es ruhig hören. Er hatte schließlich damit angefangen, in der Vergangenheit herumzuwühlen.
»Was sollte ich dir denn sagen, Pia? Die Wahrheit?«
»Was ist die Wahrheit?«
»Dass ich mich fünfundzwanzig Jahre lang gefragt habe, wer dein Vater ist. Warum Anna mir nie von ihm erzählen konnte. Wenn sie dich ansah, dachte ich immer, sie sieht ihn in dir.«
»Ich muss ihm wohl ähnlich sehen. Ich meine, wenn ich sonst niemandem ähnlich bin, dann bleibt ja nur mein Erzeuger übrig.«
»Dein Hang zum Sarkasmus passt nicht zu einer jungen Frau, Pia. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Sie sah, dass ihre Mutter sie entdeckt hatte und besorgte Blicke hinüberwarf. Pia versuchte, sich zusammenzureißen. Erfolglos.
»Du hast mir eigentlich ständig gesagt, was dir an mir alles nicht passt …«
Das war ein prima Hochzeitsthema, dachte sie zornig. Pia versuchte, den Rest der Bloody Mary hinunterzukippen. Das Getränk schmeckte diesmal zu sehr nach Gemüsegarten.
»Ich habe es immer gut gemeint«, sagte Günther Liebig störrisch.
»Das Gegenteil von gut ist gut gemeint«, antwortetePia, einen ihrer Ausbilder zitierend. Sie konnte den letzten Schluck nur hinunterwürgen. »Entschuldige mich bitte.«
Pia flüchtete sich in die Damentoiletten im Keller. Sie musste nicht. Stattdessen ließ sie sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen und lauschte dem beruhigenden Gesäusel der Kaufhausmusik, die aus unsichtbaren Lautsprechern in die Toilettenräume drang. Hinter ihr ging die Tür auf und ihre Schwester Nele betrat den Raum.
»Was ist passiert, Pia? Papa sieht aus, als stünde er kurz vor dem Herzinfarkt.«
»Nichts ist passiert. Wir haben uns gerade mal wieder versichert, wir sehr wir uns lieben.«
»Du bist zu hart zu ihm, Pia. Gegen dein Mundwerk kommt er einfach nicht an.«
»Ich? Hart zu ihm? Weißt du, wie es für mich war, seine Stieftochter zu sein?« Sie sah weiter auf das Wasser, das über ihre schneeweißen Handgelenke lief.
»Ach, die alte Geschichte wieder …«, meinte Nele gleichgültig.
»Er hat mir nie verziehen, dass ich vor ihm da war. Mir nicht und Anna auch nicht.« Pia schluckte und starrte weiter in das Waschbecken hinunter.
»Pia, du weinst ja?«, sagte Nele.
Ein paar Sekunden vergingen, in denen nichts zu hören war als das Rauschen des Wassers. Dann wischte Pia sich mit dem Handrücken über die Wange. »Nein. Und deshalb schon lange nicht mehr.«
Sie sammelte sich ein wenig und drehte das Wasser ab.
»Was macht dein Olaf? Ist er an der Reihe, mit der Braut zu tanzen?«
Nele lächelte und schüttelte den Kopf. Sie zog ein Schminktäschchen aus ihrer Handtasche und verteilte den Inhaltauf der Marmorfläche neben dem eingelassenen Waschbecken. Nachdem sie ihr Gesicht im Spiegel gemustert hatte, griff sie nach einer flachen schwarzen Dose und fing an, ihre Stirn abzupudern.
»Ist Anna sehr sauer auf mich?«
»Keine Ahnung. Wäre ja bei Mutter nichts Neues.«
»Ich gehe jetzt besser wieder nach oben. Es sei denn …«
»Ja?«
»… du willst dich noch weiter mit mir unterhalten.«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil du nicht auf die Toilette gehst. Und du bist doch wohl nicht heruntergekommen, um mich zu trösten?«
»Danke für die freundliche Einschätzung meines Charakters, Pia. Aber vielleicht hast du Recht. Erinnerst du dich daran, als ich neulich bei dir war?«
»Natürlich …«
»Ich wollte dir eigentlich etwas erzählen, aber dann war nicht die Gelegenheit dazu.«
Pia merkte auf. Es war sonst nicht Neles Art, sich derart vorsichtig an eine Sache heranzutasten.
»Dann ist jetzt die Gelegenheit.«
Nele legte den Puderquast zurück in die Dose und schritt die Reihe mit den fünf Toiletten ab. Sie stieß jede Tür auf und überzeugte sich, dass niemand darin war. Es war eine theatralische kleine Szene von der Sorte, die Nele Spaß machen musste.
»Nele, wir sind allein hier unten.«
»Du arbeitest doch bei der Kripo im Morddezernat?«
»Mordkommission«, verbesserte Pia automatisch.
»Es kursieren seit einiger Zeit so Gerüchte. In der Cubango und auch im Sub, eigentlich überall, wo sich bestimmte Leute treffen.«
»Was für Leute? Was für ein Gerücht?«
»Keine
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