Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd
„Später“, flüsterte sie. „Vielleicht später.“
Im Schlaf sah sie betörend aus. Gabriel widerstand dem Drang, ihr Gesicht zu berühren, denn er wollte sie nicht wecken. Ihre Wangen waren rosa, die Lippen rot von seinen Küssen. Mit einem Stich Schuldbewusstsein rieb er sich über seine Bartstoppeln.
Durch die Fenster fiel Morgensonne. Violets Haar glänzte tiefschwarz im Licht, die Wimpern zwei dunkle Sicheln auf ihrer Haut, die die Zartheit ihrer Gesichtszüge betonten. Im Schlaf wirkte sie verletzlich, ein weiterer dieser Widersprüche in ihr, die ihn so faszinierten. Dabei kannte er sie kaum zwölf Stunden.
Es war erschütternd, wie sehr sie ihn an Zoe erinnerte. Die wahre wunderbare Zoe, bevor sie sich in ein Ungeheuer verwandelt hatte. Die Schuld fühlte sich erdrückend an, noch immer nach all den Jahren. Er fragte sich, ob sich das ändern würde, eines Tages. Vielleicht war das hier ein Zeichen, eine zweite Chance. Gabriel schloss die Augen. Er glaubte nicht an göttliche Intervention. Violet war nicht Zoe. Sie hatteihn aus dem Etherlightkerker befreit und sie trug etwas an sich, das ihm die Selbstbeherrschung raubte. Doch sie war nicht Zoe. Mit diesem Vergleich tat er beiden Unrecht – Violet ebenso wie seiner Verlobten, der er auf den vereisten Treppen einer Prager Seitenstraße das Genick gebrochen hatte. Die Jahrhunderte hatten die Schuld nicht fortgewaschen, nur gedämpft zu einem dumpfen Pochen. Wie eine Wunde, die nie richtig verheilte. Er hatte nicht nachgedacht. Weder, als er Violet in sein Haus mitgenommen, noch später, als er sie geküsst hatte, aus einem verrückten Impuls heraus.
Violet drehte sich halb im Schlaf. Die Decke glitt ihr von den Schultern und entblößte einen Arm und den Ansatz ihrer Brüste. Was geschah, wenn sie aufwachte? Sie würden frühstücken und dann würde sie so rasch verschwinden, wie sie aufgetaucht war. Kein Grund, die Erwartungen hochzuschrauben. Er konnte sie kaum bitten, noch ein paar Tage zu bleiben. Zumal er diese Art Ablenkung im Moment nicht brauchte. Er musste seinen Vater aufsuchen und ihm von dem Mann namens Carl und seinen verrückten Ambitionen berichten. Zwar glaubte er nicht, dass Etherlight ihm erneut gefährlich werden konnte, nun, da er gewarnt war. Doch sein Vater war eine ganz andere Sache.
Violet bewegte sich erneut, Haarsträhnen fielen ihr in die Stirn. Gabriel strich sie beiseite, ließ seine Finger auf ihrer Wange ruhen, glitt tiefer, den Hals hinab bis zu der kleinen Vertiefung unter ihrem Schlüsselbein. Ein winziges Tattoo verzierte die Haut. Eine Libelle, fein gestochen. Er musste lächeln.
„Was ist?“
Ihre Stimme schreckte ihn auf. „Ich dachte, du schläfst“, murmelte er schuldbewusst, doch ohne die Hand zurückzuziehen. „Ich habe gerade deine Libelle betrachtet.“
Sie tastete danach, ihre Finger stießen leicht gegen seine. Die Berührung durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag.
„Als Kinder haben wir in den Kanälen hinter der Union Station gespielt.“ Ihre Stimme klang schläfrig. „Wir hatten einen Geheimplatz. Ein Tümpel, in dem auch im Sommer das Wasser steht. Dort gibt es jede Menge Libellen. Stell dir vor, riesige bunte Libellen mitten in diesem Drecksloch aus Stacheldraht und Blechbaracken. Ich habe mir immer vorgestellt, dass es Elfen sind und dass sie ein Tor zum verborgenen Elfenkönigreich haben.“ Sie lachte leise. „Mit vierzehn habe ich aufgegeben, zu suchen und mir das da stechen lassen. Mom war entsetzt. Sie dachte, ich sei endgültig auf die schiefe Bahn geraten.“
Er beugte sich vor und küsste die Stelle. Sie seufzte. Ein kleiner Laut, der seinen Atem beschleunigte. Ohne nachzudenken, senkte er den Kopf und strich mit den Lippen über ihre Brüste, bis er ihre Hände in seinem Haar spürte.
„Wie spät ist es?“, fragte sie.
„Kurz vor zehn.“ Er hob den Kopf. „Willst du Kaffee?“
Sie nickte.
„Kaffee im Bett?“
Ihr Lächeln vertiefte sich. In diesem Moment dachte er, dass er nie etwas Schöneres gesehen hatte als Violet, die sich verschlafen auf seinem Sofa unter der alten Indianerdecke zusammenrollte.
Träge beobachtete Violet, wie Gabriel seine Jeans anzog, dann verschwand er aus ihrem Blickfeld. Sie hörte ihn in der Küche werkeln, wenig später kitzelte der Duft von frisch gebrühtem Kaffee ihre Nase. Mit zwei Keramikbechern kehrte er zurück und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Der Jeansstoff streifte ihre Haut, sie rieb ihren Fuß gegen seinen. Dem
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