Engelskraut
leise zu zitieren: »›Wahre Freundschaft ziert das Leben, ist wie ein Band, das nie zerbricht, ist wie ein Band, das Engel weben, aus Rosen und Vergissmeinnicht.‹« Sie blinzelte heftig.
Weinte sie?
»Ich fand den Vers so schön, weil er wahr ist.« Ihre Stimme bebte.
Franca war ratlos. Sie konnte sich an etliche Sprüche in Poesiealben erinnern, aber der soeben von Milla zitierte war ihr gänzlich unbekannt. Und dass sie Ludmilla – der rothaarigen Außenseiter-Ludmilla – etwas von einer Freundschaft fürs Leben gewidmet haben sollte, war eigentlich undenkbar. Merkwürdig war auch, wie sehr dieser Vers Ludmilla bewegte. Offensichtlich brachte ihre frühere Schulkameradin da etwas gründlich durcheinander.
Milla erzählte enthusiastisch weiter. Kleine Episoden aus ihrer gemeinsamen Schulzeit, die lustig klangen und über die sie sich selbst am meisten amüsierte. Pflichtschuldig lachte Franca mit, obwohl ihr vieles davon befremdlich vorkam.
Sollte sie über ein solch selektives Gedächtnis verfügen, das sämtliche positiven Erinnerungen an Ludmilla ausgelöscht hatte? Unbeirrt berichtete die Klassenkameradin von einer fröhlichen Schulzeit, voller Spaß und Spielen gemeinsam mit den anderen. Aber das, was Franca vor allem in den Sinn kam, waren die vielen Hänseleien und Ausgrenzungen Ludmilla gegenüber, was ihr ein latentes Gefühl der Scham bereitete.
Erstaunt war Franca auch über die makellose Zahnreihe, die Milla oft beim Lachen zeigte. Offenbar hatte sie sich ihre Zähne richten lassen. Vieles an ihrem Äußeren war verändert, Maßnahmen, die sicher nicht billig gewesen waren.
Die erwachsene Ludmilla war Franca vollkommen fremd. Obwohl sie Franca nie sonderlich vertraut gewesen war. Im Klassenzimmer hatte sie hinter ihr gesessen und ihr stets auf den gescheitelten Kopf mit den roten Zöpfen geschaut. Die ein wenig abstehenden Ohren, die ebenfalls korrigiert worden waren, hatten manchmal zu glühen angefangen, wenn sie nicht sofort auf die Fragen der Lehrer antworten konnte. Und das war häufig der Fall. Oft hatte sie einen entrückten Eindruck gemacht, als ob sie nicht ganz bei der Sache sei. Das hatte ihr so manche Rüge eingebracht. Eine gute Schülerin war sie nicht gewesen.
Sollte sie dies alles vergessen haben? Im Nachhinein schien ihre gemeinsame Schulzeit eine äußerst lustige Angelegenheit gewesen zu sein.
»Kannst du dich noch an die Schöbel erinnern? Wie wir ihr zugerufen haben: ›Andernach, mach die Tore auf, die Schöbel kommt im Dauerlauf!‹« Ludmilla wollte sich schier kaputtlachen. Franca fiel zögernd in Ludmillas Lachen ein. Mit der Landesnervenklinik in Andernach verband sie nicht unbedingt witzige Assoziationen. Ihre Mutter hatte sich für längere Zeit nach dem frühen Tod ihres Vaters dort aufgehalten.
Immer näher rückte die Vergangenheit, setzte sich aus unterschiedlichen Puzzleteilen zusammen, denen die Ecken und Kanten der unschönen Episoden abgeschliffen waren. Vielleicht machte es das Leben tatsächlich einfacher, wenn man sich nur die angenehmen Erinnerungen bewahrte. Offenbar waren Ludmilla all die Demütigungen und Ausgrenzungen nicht im Gedächtnis verblieben. Oder sie hatte sie verziehen. Wenn das so war, dann war das gut so und Franca würde den Teufel tun, daran zu rühren.
»Es war richtig schön, mit dir zu plaudern.« Ludmilla erhob sich. »Aber ich muss jetzt los. Ich hab noch eine Verabredung.«
»Ja, ich fand es auch total nett, dich wiederzusehen«, erwiderte Franca und stand ebenfalls auf.
»Das müssen wir unbedingt wiederholen«, sagte Ludmilla. »Wär wirklich schade, wenn wir uns aus den Augen verlieren, wo wir uns gerade wiedergefunden haben.« Sie schob Franca ein Kärtchen mit ihrer Adresse und Telefonnummer zu und beglich wie selbstverständlich ihrer beider Rechnung. Sie verließ das Café und ging in Richtung Mosel die Gemüsegasse hinunter. Franca folgte ihr bis vor die Tür, wo sie einen Moment stehen blieb. Bewundernd sah sie ihr hinterher. Dass Menschen sich derart verändern konnten. Ludmilla bewegte sich anmutig auf ihren hohen Hacken. Das lange Haar glänzte in der Sonne. Ein bunter Seidenschal wehte um ihren Hals.
Als hätte sie den Blick der Schulkameradin gespürt, drehte sie sich kurz um und winkte Franca lächelnd zu.
Ich kann dich einfach nicht vergessen. Ja, ich habe an dich und unsere Liebe geglaubt. Ich fühlte mich sicher. Ich hätte alles für dich getan, das wusstest du. Ich war bereit, dir mein
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