Engelskraut
Tomtiger: ›Sie sollte einfach sie selbst sein. Authentisch. Und sie sollte die Natur in all ihren Facetten mögen.‹
»Heißt übersetzt: Sie sollte alles mitmachen und keine Ansprüche stellen.« Renate seufzte. »Mit der Zeit lernst du, was hinter ihren Sprüchen steht.« Sie wies auf die Papierstapel. »Du kannst es ja in Ruhe ansehen und dir selbst ein Bild machen.«
»Kommst du nicht mit in die Besprechung?«, fragte Franca.
»Immer mit der Ruhe«, meinte Renate.
Franca nahm die ausgedruckten Papiere und ging zusammen mit Renate hinüber in den Besprechungsraum, wo die anderen bereits versammelt waren. Je einen der Stapel legte sie auf Hinterhubers und Clarissas Platz.
Auf dem Tisch lag eine Zeitung, das Titelbild ein blühendes Blumenmeer. ›Besucherstrom übertrifft alle Erwartungen‹, lautete die Schlagzeile. Franca hatte die Zeitung bereits gelesen. Auch den Bericht über den Paradiesgartentoten auf der Lokalseite, in dem der Polizei-Pressesprecher mehrmals zitiert wurde. Die Presse war mit sorgsam gefilterten Inhalten gefüttert worden, wobei Insiderwissen aus ermittlungstaktischen Gründen weitgehend zurückgehalten worden war.
Durch die Fenstergläser fiel ein wenig Sonnenlicht, dennoch war im Raum die Deckenbeleuchtung eingeschaltet.
Anton Osterkorn, der Chef der Kriminaldirektion Koblenz, schob seine Hornbrille mit den getönten Gläsern zurecht und räusperte sich.
Er könnte sich ruhig mal eine neue Brille leisten, dachte Franca. Solange sie ihn kannte, trug er dieses Modell, das an die Kassengestelle der frühen siebziger Jahre erinnerte.
»Wie brisant diese Leichensache ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen«, eröffnete Anton Osterkorn die Konferenz. Dass der Chef persönlich bei der Lagebesprechung anwesend war, bewies, wie ernst er den gegenwärtigen Fall einschätzte.
Anton Osterkorn war eine rheinische Frohnatur, der gern einen Spaß mitmachte und sich an Karneval bevorzugt als Knacki verkleidete. Sein Körper war sehnig und seine hervorstechendsten Charaktereigenschaften waren Kompetenz, Humor und viel Verständnis für Zwischenmenschliches. Aber wenn es die Situation erforderte, war er ganz der souveräne Chef.
»Endlich hat Koblenz sein Mega-Ereignis, von überallher kommen die Leute, und dann passiert so etwas.« Er klopfte mit der Hand auf die vor ihm liegende Mappe. »Erst die Zerstörungen durch Herbizide auf ausgesuchten Arealen. Und jetzt noch ein nackter Toter, der uns in einem Paradiesgarten präsentiert wurde.« Osterkorn hielt inne und sah in die Runde. Mit einer generösen Handbewegung überließ er Inka Riese das Wort, die heute einen dunkelgrauen Hosenanzug mit langem Gehrock trug, darunter eine Seidenbluse, und damit ziemlich elegant aussah.
Die Leiterin des Dezernats für Umweltdelikte fasste kurz die Sachlage zusammen: Insgesamt gab es drei kreisförmig durch Totalherbizide zerstörte Stellen von ungefähr zwei Metern Durchmesser einschließlich der Stelle im Paradiesgarten, wo der Tote aufgefunden worden war. Jeweils am frühen Morgen hatte man den Schaden entdeckt, insofern konnte man davon ausgehen, dass die Attacken in der Nacht stattgefunden hatten. Der oder die Täter hatte sich sowohl an Beeten zu schaffen gemacht, die frei zugänglich waren, als auch an solchen, die sich innerhalb des BUGA-Areals befanden wie auch der letzte Giftkreis, auf dem der Tote lag. Dass es einen Zusammenhang der beiden Deliktarten gab, war anzunehmen.
»Das Schlimme ist, dass durch die Totalherbizide nicht nur die anvisierte Stelle, sondern auch große Teile der nahen Umgebung betroffen sind. Das verlangt den Gärtnern einiges ab. Die Giftkreise an sich sind weiterhin zu sehen. Zumindest für das geschulte Auge.« Inka Rieses Fokus lag ihrer Berufssparte gemäß mehr auf der zerstörten Natur als auf dem toten Menschen.
»Weiß man denn inzwischen, ob es sich mit Sicherheit nicht um Selbsttötung handelt?«, fragte der Chef.
»Dazu gibt es noch keine genauen Ergebnisse.«
Hinterhuber fuhr sich durch die dunklen Locken. »Aber die Tatsache, dass der Tote mit ausgestreckten Armen und Beinen genau in so einem Kreis lag – wie der Vitruvmann bei Leonardo da Vinci –, spricht dafür, dass ihn jemand vorsätzlich so platziert hat. Ich halte es für wahrscheinlich, dass der oder die Täter uns damit etwas Bestimmtes sagen möchten.«
»Wie konnten sich das Opfer und ein etwaiger Täter Zugang zum Paradiesgarten verschaffen?«, fragte jemand. »Das Gelände ist eingezäunt.
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