Engelsleid (German Edition)
das Ganze aus dem Blickwi n kel der Besucher sehen. «
» Ich bin dabei. «
Türen und Warnanlagen waren für Engel keine Hindernisse. Sekunden später befanden sie sich oberhalb der ersten Stufe der Rolltreppe, die über Nacht stillstand, sich aber nun unter Levi a thans Einfluss in Gang setzte.
Eines hatten sie den Besuchern, die tagsüber neugierig die S ä le durchstreiften, auf jeden Fall voraus. Viele der Stücke, die in der griechischen und römischen Antikensammlung ausgestellt waren, hatten die beiden Engel in ihrem ursprünglichen Umfeld im Einsatz gesehen, oder ihre Entstehung miterlebt, sogar ihren Kunstraub, der auf fragwürdige Weise später legalisiert worden war. Azaradeel liebte zudem die Werke der italienischen Renai s sancemaler, wohingegen Leviathan die flämische und französ i sche Malerei bevorzugte.
Oft hatten sie den Archäologen über die Schulter gesehen, ihre Diskussionen als unsichtbare Beobachter mit verfolgt, ihre Bem ü hungen um Aufklärung der Bedeutung mit müdem Lächeln b e dacht. Es spielte keine Rolle, ob die teils gekauften, teils jedoch als Kriegsbeute verschleppten Gegenstände unter Napoleon, oder König Franz I. von Frankreich oder Ludwig XIV. in den Louvre gelangt waren. Den Wissenschaftlern gaben sie jede Menge Rätsel auf, die gelöst werden w ollten. Wen kümmerten da schon die B e sitzrechte.
Wie viel hätten sie als Engel dazu beitragen können, zur B e antwortung unzähliger Fragen, zur Entschlüsselung von Hierogl y phen, bei der Zuordnung ritueller Bedeutung. Aber außer dem einen oder anderen kleinen Hinweis, um die Dinge ins Rollen zu bringen, hielten sie sich zurück – die einen Engel, um ihre Reh a bilitation nicht zu gefährden, die anderen, weil es amüsant war, die Irrlehren der Menschen zu verfolgen. Wo bliebe denn der Spaß, wenn die Menschen bald so schlau wären wie Engel?
Vor einer Vitrine am Fenster blieb Azaradeel stehen und schaltete das Licht ein. Er beugte sich herab, auf Augenhöhe mit den kleinen Figuren, die darin ausgestellt waren. Es handelte sich um überaus exakte Darstellungen von Engeln, teilweise auf eine Zeit weit vor der christlichen Zeitrechnung datiert. Er fragte sich, wie die Besucher mit dieser Information umgingen. War es für sie selbstverständlich, dass es so frühzeitliche Darstellungen von Engeln gab? Werteten sie es als Beweis für die Wahrhaftigkeit des Alten Testaments? Wenn die Menschen wüssten, welche Absichten die Verfasser des Gilgameschepos, der Bibel, des K o ran, und all der anderen grundlegenden Aufzeichnungen von R e ligi o nen in den meisten Fällen bewegt hatte n . Nur eines war ihnen allen gemeinsam. Der Glaube an einen Gott und an Engel, auch wenn sie nicht immer als solche deklariert wurden, sondern sich wie im Hinduismus oder vielen Urreligionen hinter Neben- und Halbgö t tern verbargen, häufig in weiblicher Gestalt.
Diese frühen Darstellungen von Engeln waren sehr ästhetisch, schwungvoll, sympathisch, und ja, man könnte sagen: perfekt. Nun ja, rein äußerlich war er dies auch, ein unwiderstehlich a t traktiver Mann. Wenn er wollte, das wusste Azaradeel, so hätte er zehn Frauen an jedem Finger … Sünde! Hochmut! Narzis s mus!, schrie ihm sein Spiegelbild aus der Vitrinenscheibe entgegen. Lebe Keuschheit! Zu seiner eigenen Verwunderung gelang es ihm, diese Mahnungen zu ignorieren und dem Frevel mit einem zufri e denen Lächeln standzuhalten. Es war wahrlich an der Zeit, sich mehr um sich selbst zu kümmern und sich kein schlechtes Gewi s sen machen zu lassen . Gäbe es eine Punkteskala, auf der er sich von h undert Fehlpunkten auf z wanzig verbessert hätte, so wüsste er, dass es sich lohnte, sich selbst zu ka s teien. Im Augenblick sah es jedoch eher so aus, als ob er bis in alle Ewi g keit ein gefallener Engel bleiben würde. Wozu sich also dann noch mit Regeln qu ä len?
» Glaubst du, unser Herr ist unfehlbar, Levi? « , fragte er, ohne den Blick von den Figuren abzuwenden.
Leviathans Gesicht erschien neben seinem Spiegelbild. » Seit wann stellst du denn ketzerische Fragen? «
» Beantworte sie einfach: Glaubst du daran oder nicht? «
» Nein. « Der Freund grinste breit. » Aber wie kommst ausg e rechnet du darauf? «
Sie sahen sich an.
» Wenn Gott der Herr die Menschen nach seinem Ebenbild schuf, dann wären sie doch niemals laut diesem Eva-nimmt-Apfel-von - Schlange-Märchen der Sünde verfallen. Sie hätte ihrer Neugierde und der Versuchung widerstanden. Also hat Gott die
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