Engelslicht
Bedürfnisse habe, nur weil sie es glaube. Sie beschloss, diese verrückte Idee auszuprobieren. Sie straffte die Schultern. Sie sprach die Worte laut in die neblige Dunkelheit. »Ich, Lucinda Price, friere nicht, ich habe keinen Hunger, ich bin nicht müde.«
Der Wind wehte weiterhin, der Uhrturm in der Ferne schlug fünf – und etwas löste sich von ihr, sodass sie sich nicht mehr erschöpft fühlte. Sie kam sich ausgeruht vor und bereit zu allem, was die Nacht fordern würde, entschlossen, Erfolg zu haben.
»Schönes Gespür, Lucinda Price«, sagte Daniel. »Fünf Sinne um fünf Uhr transzendiert.«
Sie griff nach seinem Flügel, hüllte sich in ihm ein und ließ sich von ihm wärmen. Diesmal hieß das Gewicht seines Flügels sie in einer mächtigen, neuen Dimension willkommen. »Ich kann es schaffen.«
Daniels Lippen streiften ihren Kopf. »Ich weiß.«
Als Luce sich von Daniel abwandte, war sie überrascht, dass die Outcasts nicht mehr herumlungerten, sie nicht mehr mit toten Augen anstarrten.
Sie waren verschwunden.
»Sie haben sich auf die Suche nach der Waage gemacht«, erklärte Daniel. »Daedalus hat uns Hinweise zu ihrem Aufenthaltsort gegeben, aber ich werde eine genauere Vorstellung von ihm oder von dem Ort brauchen, an dem die anderen festgehalten werden, damit die Outcasts sie retten können, während ich die Waage ablenke.« Er setzte sich auf den Vorsprung und legte die Beine über die vergoldete Figur eines Adlers, der auf die Stadt hinaussah. Luce sank an seine Seite.
»Es sollte nicht lange dauern, je nachdem, wie weit sie entfernt sind. Dann brauchen sie vielleicht eine halbe Stunde, um das Protokoll der Waage zu durchlaufen« – er legte den Kopf schräg und rechnete kurz –, »es sei denn, sie beschließen, ein Gericht einzuberufen wie beim letzten Mal, als sie mich belästigt haben. Heute Abend werde ich einen Weg finden, mich dem zu entziehen, es auf einen anderen Termin zu verschieben, den ich nicht einhalten werde.« Er nahm ihre Hand und wandte sich ihr zu. »Ich sollte spätestens um sieben wieder hier sein. Das ist in zwei Stunden.«
Luce’ Haar war nass vom Nebel, aber sie befolgte Daniels Rat und sagte sich, dass es ihr nichts ausmache, und schon bemerkte sie es nicht mehr. »Machst du dir Sorgen um die anderen?«
»Die Waage wird ihnen nichts tun.«
»Warum haben sie dann Daedalus etwas getan?«
Sie stellte sich Arriane mit geschwollenen, blau geschlagenen Augen vor, Roland mit abgebrochenen, blutverschmierten Zähnen. Sie wollte nicht, dass sie aussahen wie Daedalus.
»Oh«, sagte Daniel. »Die Waage kann Furcht einflößend sein. Sie genießt es, anderen Schmerzen zuzufügen, und sie könnte unseren Freunden ein zeitweiliges Unbehagen bereiten. Aber sie wird sie nicht dauerhaft verletzen. Sie tötet nicht. Das ist nicht ihr Stil.«
»Was ist dann ihr Stil?« Luce schlug auf dem harten, feuchten Dach die Beine unter. »Du hast mir immer noch nicht erzählt, wer das eigentlich ist und womit wir es zu tun haben.«
»Die Waage entstand nach dem Sturz. Es ist eine kleine Gruppe von … niederen Engeln. Sie waren die Ersten, die bei dem Namensaufruf gefragt worden waren, auf welcher Seite sie stehen wollten, und sie wählten den Thron.«
»Es gab einen Namensaufruf?«, fragte Luce, nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. Es klang mehr nach Schule als nach Himmel.
»Nach der Spaltung im Himmel musste sich jeder von uns für eine Seite entscheiden. Und so wurde jeder aufgerufen, dem Thron einen Treueeid zu leisten. Zuerst kamen die Engel mit den kleinsten Herrschaftsbereichen an die Reihe.« Er sah in den Nebel, und es war, als könne er alles wieder vor sich sehen. »Es hat eine Ewigkeit gedauert, die Namen der Engel zu verlesen, von den untersten Rängen an aufwärts. Wahrscheinlich hat es genauso lange gedauert wie der Aufstieg und Fall von Rom. Aber bevor der Namensaufruf zu Ende war, geschah etwas …« Daniel holte bebend Luft.
»Geschah was?«
»Geschah etwas, wodurch der Thron das Vertrauen in seine Engelsschar verlor …«
Daniel verstummte. Mittlerweile war Luce klar geworden, dass dies nicht geschah, weil er ihr nicht vertraute oder weil sie etwas nicht verstehen würde, sondern weil es trotz all der Dinge, die sie gesehen und gelernt hatte, für sie noch zu früh sein könnte, die Wahrheit zu erfahren. Also fragte sie nicht – obwohl sie darauf brannte –, was den Thron dazu veranlasst hatte, den Namensaufruf abzubrechen, bevor die höchsten Engel
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