Engelsmorgen
waren wir stehen geblieben?«
»Beim Teufel«, sagte Shelby, den Mund voller Pfannkuchen.
»Ah ja. Also. Man kann El Diablo Grande ja vorwerfen, was man will, aber er ist tatsächlich …«, Arriane warf den Kopf zurück, »… verantwortlich dafür, dass bei den Engeln so etwas wie die Vorstellung eines freien Willens aufkam. Womit ich einfach nur sagen will: Er hat uns viele Denkanstöße verpasst. Auf welche Seite will man sich stellen? Sobald es da eine Wahlmöglichkeit gab, haben sich viele Engel gegen Gott gestellt. Das war der berühmte Engelssturz.«
»Wie viele denn?«, fragte Miles.
»Gestürzte Engel? Jedenfalls genug, um so was wie eine Pattsituation hervorzurufen.« Arriane blickte einen Moment ernst, dann schnitt sie eine Grimasse und rief wieder nach der Kellnerin. »Chilisoße! Gibt es hier so was?«
»Und was ist mit den gestürzten Engeln, die sich nicht auf die Seite des T…« Luce redete nicht weiter, sie dachte an Daniel. Sie merkte, dass sie unwillkürlich zu flüstern angefangen hatte, aber solche Dinge in einem Schnellrestaurant zu diskutieren, war nicht gerade selbstverständlich. Selbst wenn es sich um ein so gut wie leeres Diner mitten in der Nacht handelte.
Auch Arriane senkte die Stimme. »Es gibt jede Menge Engel, die abgefallen sind, sich aber immer noch als Gottes Verbündete sehen. Und dann gibt es die, die sich auf die Seite des Teufels gestellt haben. Wir nennen sie Dämonen, obwohl sie eigentlich nur gefallene Engel sind, die leider die falsche Wahl getroffen haben. Das war für uns alle nicht leicht. Seit dem Engelssturz gibt es bei uns so was wie ein Kopf-an-Kopf-Rennen und alle müssen entweder für die eine oder für die andere Seite sein. Entweder hier oder dort.« Arriane schnitt ihren Pancake in der Mitte durch. »Aber vielleicht ändert sich das ja alles bald.«
Luce blickte auf ihre Rühreier, ihr war der Appetit vergangen.
»Und, ähm, hast du mir deshalb vorhin zu verstehen geben wollen, dass ich mich klar entscheiden muss? Dass letztlich alles davon abhängt, auf wessen Seite man sich stellt?« Shelby wirkte weniger skeptisch als sonst.
»Vielleicht nicht von deiner Entscheidung.« Arriane wiegte den Kopf. »Ich weiß, dass die meisten von uns inzwischen das Gefühl haben, als könnte alles für immer in dieser Art von Gleichgewicht bleiben. Aber letztlich läuft es darauf hinaus, dass ein einzelner mächtiger Engel sich irgendwann einmal entscheidet, wo er nun eigentlich steht. Und wenn das geschieht, dann senkt sich die Waagschale. Und dann ist es wichtig, welche Entscheidung man selbst getroffen hat.«
Luce musste an Miss Sophia denken und was sie damals in der Kapelle zu ihr gesagt hatte, als Luce auf dem Altar festgebunden war. Das Schicksal des Universums hänge von Daniel und Luce ab, hatte Miss Sophia gesagt. Das hatte sich zwar nur nach irrem Gerede angehört – und Miss Sophia war ja auch ganz klar eine durchgeknallte Person. Aber obwohl Luce auch jetzt nicht genau wusste, wovon eigentlich die Rede war, wusste sie doch, dass am Ende zählte, wofür Daniel sich entschied.
»Es ist Daniel«, sagte sie leise. »Der Engel, der den Ausschlag gibt, ist Daniel.«
Das erklärte, warum er immer ein so schweres Gewicht mit sich herumzuschleppen schien, als hätte er dauernd einen tonnenschweren Koffer bei sich. Es erklärte, warum er so lang fort gewesen war, fern von ihr. Aber es erklärte nicht, warum Arriane sich nicht ganz sicher zu sein schien, auf welche Seite sich die Waagschalen schließlich senken würden. Welche Seite in der großen Schlacht gewinnen würde.
Arriane öffnete den Mund, aber statt einer Antwort fuhr sie erneut mit der Gabel durch Luces Rührei. »Kann ich endlich etwas Chilisoße bekommen?«, brüllte sie noch einmal.
Ein Schatten fiel über ihren Tisch. »Ich geb dir gleich was Scharfes.«
Luce drehte sich um und zuckte zusammen. Ein sehr großer junger Mann in einem langen braunen Trenchcoat stand hinter ihr. Sie konnte erkennen, dass aus seiner Innentasche etwas Silbernes herausragte. Der Junge war kahl rasiert, hatte eine schmale, gerade Nase, perfekte Zähne.
Und weiße Augen. Augen, die überhaupt keine Farbe hatten. Keine Iris, keine Pupille, gar nichts.
Das Outcast-Mädchen, dachte Luce. Der seltsame, leere Blick erinnerte sie an das Outcast-Mädchen. Luce hatte das merkwürdige Mädchen auf dem Parkplatz nicht genau genug sehen können, um herauszufinden, was mit ihren Augen nicht stimmte, aber jetzt wusste sie
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