Engelsmorgen
vorstellte. Wie er seine Baseballkappe abnehmen würde, ihrer Mom und ihrem Dad die Hände schütteln würde, wie er ihrer Mom ein Kompliment zu ihrer halb fertigen Gobelinstickerei machen würde …
»Kann es sein, dass du in Sachen ›Geheimmission‹ irgendwas nicht so ganz kapiert hast?«, fragte Arriane.
»Ich bin schuld«, gab Miles kleinlaut zu. »Ich hab Roland hierherstürmen sehen … und nicht lockergelassen, bis er damit herausgerückt ist. Deshalb ist er auch so spät dran.«
»Sobald der Kerl was von Luce und Georgia gehört hat, war er in einer Nanosekunde mit dem Packen fertig.« Roland hielt anerkennend den Daumen nach oben.
»Wir haben so was wie einen Deal für Thanksgiving«, sagte Miles und schaute dabei Luce an. »Ich konnte doch nicht einfach zulassen, dass sie ihn bricht.«
»Nein.« Luce konnte nur schwer ein Lächeln unterdrücken. »Das durfte wirklich nicht sein.«
»Hmmmm-hmmmm.« Arriane zog eine Augenbraue hoch. »Ich frag mich gerade, was wohl Francesca dazu sagen würde. Ob nicht jemand zuerst mal deine Eltern benachrichtigen sollte, Miles …«
»He, komm schon, Arriane.« Roland winkte verächtlich ab. »Seit wann hast du’s denn mit der Autorität? Ich kümmer mich um ihn. Es wird ihm nichts passieren.«
»Wo wird ihm nichts passieren?« Shelby kam herein, ihre Yogamatte hatte sie am Rücken baumeln. »Wohin brechen wir auf?«
»Zu Luce nach Georgia, um dort Thanksgiving zu feiern«, sagte Miles.
Im Flur tauchte hinter Shelby ein weißblonder Kopf auf. Shelbys Exfreund. Seine Haut war geradezu gespenstisch weiß, und Shelby hatte recht: Mit seinen Augen war etwas seltsam. Sie waren wirklich ganz blassblau.
»Zum letzten Mal, Phil. Tschüs.« Shelby knallte ihm schnell die Tür vor der Nase zu.
»Wer war das?«, fragte Roland.
»Mein beschissener Ex.«
»Sieht irgendwie interessant aus«, meinte Roland, der wie geistesabwesend zur Tür gestarrt hatte.
»Interessant?«, schimpfte Shelby. »Eine einstweilige Verfügung gegen ihn, das wäre interessant.« Sie warf einen Blick auf Luces Koffer, dann auf Miles’ Reisetasche und fing an, aufs Geratewohl ihre Sachen in einen schwarzen Trolley zu schmeißen.
Arriane hob abwehrend die Arme. »Geht ohne die zwei bei dir wirklich gar nichts?«, fragte sie Luce und wandte sich dann zu Roland: »Für die wirst du wahrscheinlich auch die Verantwortung übernehmen wollen?«
Roland lachte. »Da kommt gleich die richtige Ferienstimmung auf! Wir brechen zu Luces Eltern nach Georgia auf, um dort Thanksgiving zu feiern«, sagte er zu Shelby, deren Gesicht aufleuchtete. »Je mehr, desto besser.«
Luce konnte noch gar nicht so recht glauben, wie wunderbar sich auf einmal alles fügte. Sie würde Thanksgiving mit ihren Eltern und Callie und Arriane und Roland und Shelby und Miles feiern. Schöner hätte sie es sich gar nicht ausmalen können.
Nur etwas nagte an ihr. Nagte ernsthaft an ihr.
»Und was ist mit Daniel?«
Womit sie meinte: Weiß er schon von diesem Ausflug? und Was ist das eigentlich für eine Geschichte zwischen ihm und Cam? und Ist er immer noch wütend auf mich, weil ich Miles geküsst habe? und Sollte Miles vielleicht besser doch nicht mitkommen? und auch Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Daniel morgen ebenfalls bei meinen Eltern auftaucht, obwohl er immer wieder beteuert, dass er mich eigentlich nicht sehen darf?
Arriane räusperte sich. »Ja, was ist eigentlich mit Daniel?«, fragte sie leise. »Das wird sich zeigen.«
»Habt ihr schon für uns alle Flugtickets besorgt?«, fragte Shelby. »Weil, wenn wir nämlich fliegen, muss ich unbedingt mein Entspannungsset mitnehmen, Massageöl, Heizkissen. Ohne das erlebt ihr mich besser nicht in 35 000 Fuß Höhe.«
Roland schnippte mit den Fingern.
Vor seinen Füßen löste sich der Schatten, den die offene Tür warf, von den Holzdielen und hob sich, wie eine Klapptür, die in einen Keller hinunterführt. Ein kalter Windhauch fegte über den Boden, gefolgt von einem Stoß von Finsternis. Es roch nach moderigem, faulem Stroh. Dann schrumpfte der Schatten zu einer kleinen, kompakten Kugel zusammen, um sich danach, auf ein Nicken von Roland hin, zu einem hohen schwarzen Portal aufzublähen. Eine Tür, wie sie auch in die Küche eines Restaurants hätte führen können, eine Schwingtür mit einer runden Glasöffnung auf Kopfhöhe. Nur dass diese Tür aus dem düsteren Nebel der Verkünder geformt war, und alles, was man durch das Fenster sehen konnte, die
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