Engelsmorgen
nicht und hatte auch keine Angst. Sie fühlte sich von allem befreit, was auf der Erde auf ihr lastete. Von aller Gefahr befreit, frei von jedem Schmerz, den sie jemals gefühlt hatte. Frei von Schwerkraft. Und voller Liebe. Daniel zog mit dem Mund eine Linie von Küssen ihren Hals entlang. Er schlang seine Arme fest um ihre Taille und drehte sie dann zu sich um, sodass er ihr in die Augen schauen konnte. Ihre Füße ruhten auf seinen, es war wie in der Nacht am Strand, als sie über dem Wasser des Ozeans getanzt hatten. Inzwischen blies kein Wind mehr; die Luft um sie herum war still. Die einzigen Laute kamen von Daniels Schwingen und ihrem eigenen Herzschlag.
»Solche Augenblicke zwischen dir und mir«, sagte Daniel, »machen alles wett, was wir durchstehen müssen.«
Dann küsste er sie, wie er sie noch nie geküsst hatte. Ein langer, ausgedehnter Kuss, der ihre Lippen für immer in Besitz zu nehmen schien. Seine Hand fuhr ihren Körper entlang, sie erst nur sanft berührend, dann immer nachdrücklicher. Lustvoll zog er die Rundungen ihres Körpers nach. Sie verschmolz mit ihm, während er seine Finger über ihren Rücken, ihre Hüften, ihren Busen gleiten ließ. Er nahm jeden Teil ihres Körpers in Besitz.
Luce spürte durch Daniels T-Shirt hindurch seinen muskulösen Oberkörper, seine kräftigen Oberarme. Ihre Hände lagen auf den Taschen seiner Jeans. Sie küsste sein Kinn, seine Lippen. Hierher gehörte sie, in die Wolken. Wo Daniels Augen heller funkelten als jeder Stern, den sie jemals gesehen hatte.
»Können wir nicht für immer hierbleiben?«, fragte sie. »Nur wir beide. Vereint. Ich kann von dir nie genug gekommen.«
»Hoffe ich doch.« Daniel lächelte. Aber dann, viel zu bald, veränderten seine Flügel ihre Haltung, breiteten sich flacher aus. Luce wusste, was nun folgen würde. Ein langsames Hinunterschweben zur Erde.
Sie küsste Daniel ein letztes Mal und lockerte dann die Umarmung, bereitete sich auf den Flug vor – und verlor dann plötzlich den Halt.
Fiel.
Fiel in die Tiefe.
Es geschah erst wie in Zeitlupe. Luce kippte nach hinten, sie paddelte wild mit den Armen, und dann spürte sie nur noch den kalten Wind, während sie senkrecht in die Tiefe stürzte. Ihr verging der Atem. Das Letzte, was sie sah, waren Daniels Augen, der Schock in seiner Miene.
Dann beschleunigte sich alles immer mehr, und sie stürzte so rasend schnell, dass sie nicht mehr atmen konnte. Die Welt war ein leerer schwarzer Wirbel, ihr war schwindlig und vor Angst schlecht, die Augen brannten und tränten ihr vom Wind, sie konnte nichts mehr sehen. Sie spürte, dass sie gleich ohnmächtig werden würde.
Und dann wäre es um sie geschehen.
Sie würde nie erfahren, wer sie wirklich war, würde nie wissen, ob ihre gemeinsame Geschichte das alles wert gewesen war. Würde nie wissen, ob sie Daniels Liebe wirklich verdient hatte und er die ihre. Es war alles vorbei. Aus. Ende.
Der Wind tobte in ihren Ohren. Sie schloss die Augen und wartete auf das Ende.
Und dann packte er sie.
Seine Arme umfassten sie, vertraute, starke Arme, und alles verlangsamte sich wieder, sie fiel nicht länger – sie wurde sanft gewiegt. Von Daniel. Luce hatte die Augen geschlossen, aber sie wusste, dass er es war.
Sie schluchzte auf, erleichtert, dass Daniel sie aufgehalten hatte. Sie gerettet hatte. Nie hatte sie ihn mehr geliebt als in diesem Augenblick – egal wie viele Leben sie schon gelebt und wie oft sie ihn schon mit all ihrer Liebe geliebt hatte.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte Daniel mit weicher Stimme. Seine Lippen berührten sacht ihre Lippen.
»Ja.« Sie spürte, wie seine Flügel schlugen. »Du hast mich aufgefangen.«
»Ich werde dich immer auffangen und halten, wenn du fällst.«
Langsam sanken sie in die Welt zurück, die sie verlassen hatten, zurück nach Shoreline und zum Ozean, der gegen die Steilküste brandete. Als sie sich dem Wohnheim näherten, schloss Daniel sie noch einmal fest in die Arme und flog dann zum Sims, wo er sie sacht, mit federleichter Berührung, absetzte.
Luce stand wieder auf dem Mauerwerk. Sie schaute zu Daniel auf. Sie liebte ihn. Das war das Einzige, dessen sie sich sicher war.
»Da sind wir wieder«, sagte er mit ernster Miene. Sein Lächeln erstarrte und der strahlende Glanz in seinen Augen verblasste. »Hoffentlich hat das deine Ausflugsfreude befriedigt, wenigstens für eine Weile.«
»Was meinst du damit?«
»Na komm schon, Luce, das weißt du doch.« Seine Stimme hatte die
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