Engelsnacht
gewartet, aber dann hat mir jemand gesagt, dass du schon lange gegangen warst.«
Luce hatte den Eindruck, dass er genau wusste, mit wem sie gegangen war, und dass er ihr das auch zu verstehen geben wollte.
»Tut mir leid«, sagte sie. Sie musste es brüllen, um bei dem Donner, der gerade über ihren Köpfen losbrach, verstanden zu werden. Es regnete so stark, dass sie beide inzwischen klitschnass waren.
»Lass uns hier nicht stehen bleiben.« Cam zog sie zum überdachten Eingang von Augustine zurück.
Luce blickte über Cams Schulter zur Turnhalle und wollte lieber dort sein, nicht hier oder irgendwo sonst mit ihm. Zumindest nicht jetzt. Sie war zu verwirrt. In ihr tobten zu viele widersprüchliche Gefühle, und sie brauchte Zeit für sich und einen Ort, an dem sie allein sein konnte, um einen klaren Kopf zu bekommen.
»Ich kann jetzt nicht«, sagte sie.
»Und später? Wie wär’s mit später?«
»Ja, warum nicht, später.«
Er strahlte. »Ich komm dann heute Abend bei dir vorbei.«
Und dann zog er sie kurz zu sich heran und küsste sie sanft auf die Stirn, was Luce völlig verdutzte. Sie fühlte sich sofort besänftigt, als hätte man ihr irgendetwas verabreicht.
Bevor sie richtig wusste, wie ihr geschah, hatte er sie schon wieder losgelassen und ging schnell durch den Regen davon.
Luce schüttelte den Kopf und trottete langsam zur Turnhalle. Es gab noch so viel mehr, worüber sie nachdenken musste, nicht nur über Daniel.
Was sprach dagegen, wenn Cam später noch bei ihr vorbeikam? Sie könnten einen netten, lustigen Abend miteinander verbringen. Wenn der Regen aufhörte, würde er sie vielleicht zu irgendeinem Geheimplatz auf dem Schulgelände mitnehmen und wäre auf seine beunruhigend stille Art anziehend und wunderschön wie immer. Er würde ihr das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein. Luce lächelte.
Seit sie das letzte Mal den Fuß in Unsere Liebe Frau von der Körperertüchtigung (wie Arriane die Turnhalle nannte) gesetzt hatte, waren dort Schüler zu Strafarbeiten verdonnert worden und hatten angefangen, die grünen Kletterpflanzen zu entfernen, die wie ein dicker Vorhang fast das gesamte Mauerwerk bedeckten. Aber sie waren nicht sehr weit gekommen und lange grüne Ranken hingen wie Fangarme vor dem Eingang herab. Luce musste sich sogar etwas ducken, um hindurchzukommen.
Drinnen war es ruhig und leer, nach dem heftigen Regen und Donnergrollen draußen wirkte die Stille fast unheimlich. Nur wenige Lichter brannten. Luce hatte nicht gefragt, ob sie nach dem Unterricht noch die Turnhalle benutzen durfte, aber es war nicht abgesperrt gewesen und außerdem war niemand da, der sie hätte aufhalten können.
In der dämmerigen Vorhalle kam sie an den alten lateinischen Schriftrollen in den Glasvitrinen vorbei und an der Marmorreproduktion von Michelangelos Pietà. Sie hielt kurz vor dem Kraftraum an, wo sie Daniel beim Seilspringen
beobachtet hatte. Seufz. Das wären noch zwei weitere wichtige Eintragungen auf ihrer Liste:
18. September: D. beschuldigt mich, ihn zu verfolgen. Und dann zwei Tage später:
20. September: Penn überredet mich, D. weiter auf der Spur zu bleiben. Ich stimme zu.
Oh weh. Sie steigerte sich da jetzt richtig in was hinein. Wenn sie nicht aufpasste, wurde das die reinste Selbsthassorgie. Trotzdem konnte sie nicht aufhören. Dann kam ihr plötzlich, warum Daniel sie schon den ganzen Tag noch mehr beschäftigte als sonst und ihre Gefühle Cam gegenüber noch widerprüchlicher waren. Sie hatte in der Nacht von ihnen beiden geträumt.
Sie war durch einen dichten Nebel gewandert und jemand hatte ihre Hand gehalten. Sie hatte gedacht, es sei Daniel, und sich zu ihm gedreht, um ihn zu küssen. Die Lippen, auf die sie ihre Lippen presste, waren weich und einladend. Da merkte sie, dass es Cam war. Er küsste sie unzählige Male, sanft und zärtlich, und immer wenn Luce ihn ansah, waren seine lebhaften, wilden grünen Augen auch geöffnet, sie bohrten sich in sie und schienen eine Frage zu stellen, auf die sie keine Antwort wusste.
Dann war Cam verschwunden und der Nebel auch. Daniel hatte die Arme um sie geschlungen, wie sie es sich so sehr wünschte, und hielt sie fest an sich gedrückt. Er beugte sich über sie und küsste sie ungestüm, als wäre er wütend, und jedes Mal, wenn seine Lippen sich von ihren lösten, und sei es auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, quälte sie sofort eine unnennbare Sehnsucht. Seine Flügel, denn das wusste sie nun, er hatte ja Flügel,
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