Engelsnacht
mit ihren Fahrrädern losgezogen. Früher, das hieß, bevor sie die Wege durch den Wald und das Unterholz mied, weil dort dann immer die Schatten auftauchten, die keines der anderen Mädchen sah. Bevor ihre Freundinnen eines Tages erklärten, ihre Eltern wollten nicht mehr, dass sie Luce zu sich nach Hause einluden oder irgendetwas mit ihr unternahmen, weil sie einen ihrer Aussetzer befürchteten.
Penn hatte recht wie fast immer. Es stimmte schon, Luce hatte etwas davor gegraut, wie sie wohl ihr erstes Wochenende in der Sword & Cross hinter sich bringen würde. Kein Unterricht, keine quälenden Fitnesstests, keine geselligen Veranstaltungen standen auf der Tagesordnung. Achtundvierzig
endlos lange Stunden freie Zeit. Eine Ewigkeit. Sie hatte an dem Morgen ein quälendes Heimweh verspürt - bis Penn aufgetaucht war.
»Okay.« Und Luce bemühte sich, nicht loszuprusten, als sie sagte: »Dann nimm mich mal mit in deinen Giftkeller.«
Penn hüpfte vor Freude, als sie mit Luce über das platt getrampelte Gras zur Haupthalle im Eingangsgebäude der Sword & Cross ging. »Du weißt gar nicht, wie lange ich schon auf eine Komplizin gewartet habe, die ich dort mit runternehmen kann.«
Luce lächelte, sie war ziemlich froh, dass Penn mehr mit der neuen Freundschaft zwischen ihnen beschäftigt war als, nun ja, dem … dem großen Interesse, das sie an Daniel zeigte.
Sie kamen an ein paar auf den Bänken herumlungernden Schülern vorbei, die faul in die Vormittagssonne blinzelten. Wie seltsam es doch war, das Gelände plötzlich mit Farben belebt zu sehen. Bisher hatte Luce ihre Mitschüler nur mit schwarzer Kleidung in Verbindung gebracht. Aber da drüben war Roland in limettengrünen Fußballshorts, der mit einem Ball über den Rasen dribbelte. Und Gabbe in einer Bluse mit lila Karo. Jules und Philip - das Pärchen mit den Zungenpiercings - zeichneten sich gegenseitig Herzchen auf ihre ausgebleichten Jeans. Todd Hammond saß in einem Camouflage-T-Shirt allein auf einer Bank und las in einem Comicheft. Sogar Luces eigenes graues Tanktop und ihre abgeschnittene Jeans fühlten sich prickelnd an, verglichen mit dem Einheitsschwarz, das sie die ganze Woche angehabt hatte.
Trainer Diante und der Albatros hatten an diesem Wochenende wohl Aufsicht, denn sie hatten zwei Liegestühle ins Gras gestellt und darüber einen zerfledderten Sonnenschirm aufgespannt. Beide hatten große dunkle Sonnenbrillen im Gesicht, und nur wenn sie ihre Zigaretten zum Mund führten oder die Asche wegschnippten, schienen sie kurz zum Leben zu erwachen. Sie wirkten total gelangweilt, zwei Gefangene ihres Berufs und ihrer Pflichten, vielleicht sogar noch schlimmer dran als die Schüler, die sie überwachen sollten.
Während auf dem ehemaligen Sportplatz ziemlich viel los war, wurde es in der Nähe des Eingangsgebäudes menschenleer, wie Luce erleichtert feststellte, als sie Penn weiter über das Gelände folgte. Niemand hatte ihr angedroht, welche Strafen auf einen warteten, wenn man sich in verbotenen Bereichen der Schule herumtrieb, oder welche Bereiche überhaupt verboten waren, aber Luce war sich sicher, dass Randy schon etwas Passendes einfallen würde.
»Was ist mit den Rotlichtern?«, fragte sie. Die Kameras hatte sie einen Augenblick ganz vergessen.
»Ich hab in ein paar davon leere Batterien gesteckt, bevor ich zu dir bin«, antwortete Penn. So locker und beiläufig, als würde sie sagen: »Ich hab gerade erst getankt.«
Penn blickte sich noch einmal um, dann führte sie Luce zum Hintereingang des Gebäudes und drei Treppenstufen zu einer olivgrün gestrichenen Tür, die normalerweise keinem auffiel.
»Stammt der Keller auch aus den Zeiten des Bürgerkriegs?«, fragte Luce. Es hätte sie nicht gewundert, wenn dahinter die Skelette von vergessenen Kriegsgefangenen gelegen hätten.
Penn atmete die moderige Luft lang und tief ein. »Ist der
Fäulnisgeruch Antwort genug?« Sie grinste. »Dieser Schimmel und Moder stammen noch aus den Zeiten vor dem Krieg. Die meisten Schüler würden in Ohnmacht fallen, wenn sie so geschichtsträchtige Luft einatmen müssten.«
Luce versuchte, nur durch den Mund zu atmen, während Penn einen schweren Schlüsselbund zückte, der von einem riesigen Eisenring zusammengehalten wurde. »Wäre echt leichter für mich, wenn sie hier mal einen Generalschlüssel einführen würden«, sagte sie und ging nacheinander alle durch, bis sie schließlich einen schmalen silberfarbenen Schlüssel in der Hand hielt.
Als Penn
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