Engelsnacht
wollten.«
»Ja«, stimmte Penn ein. »Das hat uns so motiviert.«
»Wie schön!« Miss Sophia blätterte durch einen Papierstapel. »Ich muss hier irgendwo noch eine weiterführende Lektüreliste haben. Ich mach euch gleich eine Kopie.«
»Großartig!«, log Penn. »Wir holen sie uns dann später!« Sie schob Luce zu den Regalen.
In der Bibliothek war es ruhig. Luce und Penn ließen den Blick über die Signaturen gleiten, während sie Regal für Regal weitergingen. Bald musste der Abschnitt Religion kommen. Die Lampen an der Decke hatten Bewegungsmelder eingebaut, aber nur die Hälfte davon funktionierte, als sie die schmalen Korridore zwischen den Regalen kreuzten. Es war schattig und dunkel. Luce fiel auf, dass Penn die Hand auf ihren Arm gelegt hatte; dann merkte sie, dass sie nichts dagegen hatte, ihre Aufwesenheit zu spüren.
Die beiden Mädchen kamen zum Bereich mit den Lesetischen, an dem tagsüber meist viel los war, jetzt aber nur eine einzige Lampe brannte. Alle anderen mussten auf Gabbes Party sein. Alle außer Todd.
Er hatte die Füße auf den Stuhl gegenüber gelegt und blätterte in einem Weltatlas. Als die beiden Mädchen an ihm vorbeigingen, blickte er auf. Aus seinem blassen, müden Gesicht war nicht klar herauszulesen, ob er sich einsam fühlte oder verärgert war, weil er gestört wurde.
»Ihr seid spät dran, ihr zwei«, sagte er.
»Du aber auch«, erwiderte Penn und streckte ihm die Zunge heraus.
Als sie Todd ein paar Regale hinter sich gelassen hatten, blickte Luce zu Penn. »Was war das denn?«, fragte sie.
»Was? Ach so, das.« Penn wirkte eingeschnappt. »Er flirtet mit mir.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blies sich eine gelockte braune Haarsträhne aus den Augen. »Ausgerechnet der.«
»Wie alt bist du eigentlich?«, zog Luce sie auf. »Gehst du noch auf die Grundschule?«
Penn hielt Luce den Zeigefinger warnend vors Gesicht, und Luce hätte einen Satz zur Seite gemacht, wenn sie nicht so hätte kichern müssen. »Kennst du hier sonst noch jemand, der bereit wäre, mit dir die Familiengeschichte von Daniel Grigori zu erforschen? Das hab ich mir doch gedacht. Dann nerv mich jetzt nicht.«
Mittlerweile waren sie in die hinterste Ecke der Bibliothek gelangt, wo auf einem einzigen metallgrauen Regalbrett die Bücher mit der Signatur 999 standen. Penn ging in die Hocke und fuhr mit dem Finger an den Buchrücken entlang. Im selben Augenblick verspürte Luce einen Schauder, als würde jemand mit dem Finger ihren Nacken entlangfahren. Sie drehte den Kopf und bemerkte ein graues Gespinst. Nicht schwarz, wie die Schatten üblicherweise waren, sondern leichter, luftiger. Aber genauso unerwünscht.
Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie, wie der graue Schatten sich über Penns Kopf zu einem langen, verschlungenen Faden auseinanderzog und langsam heruntersank. Die Spitze, wie eine Nähnadel mit Faden, die nach unten stößt, zielte auf Penns Stirn, und Luce stellte sich lieber nicht vor, was passieren würde, wenn sie ihre Freundin tatsächlich berührte. Vor ein paar Tagen in der Turnhalle
war sie selbst das erste Mal von den Schatten berührt worden - und sie fühlte sich beim Gedanken daran immer noch unwohl, ja fast beschmutzt. Was die Schatten darüberhinaus noch mit einem anstellen konnten, wusste sie nicht.
Nervös streckte Luce den Arm aus, sie brauchte jetzt viel Mut und Kraft. Dann holte sie tief Luft und schlug zu. Sie bekam Gänsehaut, als sie den eiskalten Schatten berührte, aber sie schmetterte ihn fort - und versetzte Penn eine heftige Kopfnuss.
Penn langte mit den Händen an ihren Kopf und blickte Luce entsetzt an. »Was ist denn plötzlich in dich gefahren?«
Luce sank neben Penn auf den Boden und strich ihr über die Haare. »Tut mir leid. Da war … ich hab gedacht … da wäre eine Wespe, und ich wollte nicht, dass sie sich auf deinen Kopf setzt und dich sticht. Hab wohl etwas überreagiert.«
Sie spürte selbst, wie lahm und unglaubwürdig diese Entschuldigung klang - eine Wespe hier drinnen, und dazu noch um diese Tageszeit? Sie wartete darauf, dass ihre Freundin sie für komplett verrückt erklärte und wütend aus der Bibliothek rauschte.
Aber Penn blickte ganz gerührt. Sie nahm Luces Hand in ihre beiden Hände und schüttelte sie. »Wenn ich eine Wespe sehe, kriege ich sofort Panik. Ich bin gegen Wespenstiche allergisch. Du hast mir gerade das Leben gerettet.«
Es hätte ein großer Augenblick freundschaftlicher Verbundenheit sein
Weitere Kostenlose Bücher