Engelspakt: Thriller (German Edition)
Diesmal mit Blitz und Donner.
15.
Rinaldo trank noch einen Schluck Wasser. Das Tagesgeschäft hatte ihn bis zum späten Abend aufgehalten, und es war fast Mitternacht, als er den Ordner mit den Äthiopien-Dokumenten öffnete. Die Recherche über die Triaden war mühsam und hatte von seiner Seite in den letzten beiden Jahren so gut wie geruht, da zu viel anderes auf seiner Agenda gestanden hatte. Natürlich hatte er stets darauf geachtet, ob der Orden in einer der anderen X-Akten wider Erwarten auftauchte. Doch das war bisher kein einziges Mal geschehen. Jetzt war Rinaldo gespannt, welche Informationen Kardinal Ciban dem Schwarzen Ordner hinzugefügt hatte.
Er breitete die einzelnen Akten vor sich aus. Wie schon vor einigen Jahren fiel ihm sogleich das Material über James Bruce ins Auge. Der schottische Forschungsreisende aus dem achtzehnten Jahrhundert hatte mehr als zwölf Jahre in Nordafrika und Äthiopien verbracht und auf einer seiner Reisen das verschollen geglaubte Buch Henoch entdeckt und nach England gebracht.
Einst hatte das Buch bei Juden wie Christen in hohem Ansehen gestanden, aber dann erregte es den Unwillen einiger einflussreicher Theologen und wurde wegen seiner Berichte über Menschen und gefallene Engel zu einem Ärgernis. Der Bischof von Brescia, ein Heiliger der katholischen Kirche, verdammte es im vierten Jahrhundert als Häresie. Aber schon Rabbi Schimon ben Jochai belegte im zweiten nachchristlichen Jahrhundert jeden Menschen mit einem bösen Fluch, der der Henoch-Literatur zugeneigt war. Deshalb war das Werk nicht nur verleumdet und verflucht, sondern auch noch so lange Buch für Buch verbrannt worden, bis es über ein Jahrtausend lang als verloren gegolten hatte.
James Bruce hatte es eines Tages wie durch ein Wunder in einer äthiopischen Bibliothek wiederentdeckt. Allerdings war er damit nicht auf direktem Weg nach England zurückgekehrt, sondern zunächst in Frankreich vom Comte de Buffon empfangen worden. Der französische Naturforscher war der Herausgeber einer für damalige Verhältnisse monumentalen Naturgeschichte. Ein dem Ordner neu hinzugefügtes Schreiben aus dem neunzehnten Jahrhundert behauptete nun, dass ein Teil von Buffons offizieller siebenteiliger Naturgeschichte gestohlen worden sei, und zwar ausgerechnet das Kapitel über die Naturgeschichte der gefallenen Engel.
Rinaldo warf einen Blick auf einige Titel von Buffons Naturgeschichte: Von der besten Art, die Naturgeschichte zu erlernen und vorzutragen. Historie und Theorie der Erde. Die Bildung der Planeten … Von den Flüssen … Naturgeschichte der Thiere … Naturgeschichte des Menschen … Natürliche Geschichte des Menschen … Das Werk hätte insgesamt fünfzig Bände umfassen sollen. Bis zu Buffons Tod waren sechsunddreißig davon erschienen. Editiert vom Comte de Lacépède, waren weitere acht Bände veröffentlicht worden. Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein war der Einfluss der Naturgeschichte wohl herausragend gewesen. Und irgendwann in dieser Zeit war die Naturgeschichte der Engel und Menschen daraus verschwunden.
Rinaldo stellte fest, dass Buffons Naturgeschichte in etliche europäische Sprachen übersetzt worden war. Sollte James Bruce dem Comte de Buffon etwa vorab eine Übersetzung der Henoch-Literatur ins Französische ermöglicht haben? Aber was hätte ein Naturforscher wie Buffon mit der Übersetzung eines religiösen Werkes anfangen sollen? Weder in die allgemeine noch in die spezielle Geschichte der Natur passte der Henoch-Stoff hinein.
Rinaldo warf noch einmal einen Blick in die Biografie von James Bruce. Der Autor hatte den Comte de Buffon im Januar 1773 besucht und war erst 1774 nach London zurückgekehrt. Die Henoch-Literatur war aber erst im Jahre 1821 von Richard Laurence, Professor für Hebräisch an der Oxford-Universität, ins Englische übersetzt und veröffentlicht worden. Warum nur war die französische Version verschwunden, während die englische Ausgabe ab 1821 frei zugänglich war? Beinhaltete jener Text, den der Comte de Buffon zu Gesicht bekommen hatte, womöglich Passagen, die der englischen Ausgabe fehlten?
Rinaldo wollte gerade die nächste Akte öffnen, als sein Handy klingelte. Er nahm das Mobiltelefon vom Tisch und blickte auf das Display. Eine SMS war eingegangen, und das kleine Wunderwerk der Technik wollte wissen, ob er diese sofort lesen wolle. Da die SMS von Ciban kam, wollte er sie nicht ignorieren:
Sollte ich morgen früh nicht wie gewohnt in meinem Büro
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