Engelspakt: Thriller (German Edition)
träumenden Selbst geblieben war, dass es kein reiner Traum war, sondern einstmals bittere Realität.
Sie sah einen Jungen, kahlgeschoren, nackt und mit blutigen Händen, eingesperrt in ein kaltes, feuchtes Verlies, in dem in einer Ecke etwas Stroh ausgestreut worden war. Sie beobachtete den Jungen. Sein Gesicht drückte Verwirrung und Unbehagen aus – und Wut.
Die Tür ging auf, und der Junge wurde über einen langen, dämmrigen Gang in ein Labor geführt, in dem ein großer roter, mit einem Stromkabel verbundener Metalltank stand, von dem mehrere Rohre in den Boden führten. Catherine spähte in den Tank hinein. Dunkelheit, vollkommene Schwärze, abgesehen von dem Licht, das durch die Luke hereinfiel. Sie hatte so etwas schon einmal im KIMH gesehen, vor vielen Jahren während ihrer Ausbildung. Die technische Vorrichtung diente zum Entzug von sensorischen Reizen, im Fachjargon sensorische Deprivation genannt. Man füllte einen speziell dafür angefertigten Tank etwa achtzig Zentimeter hoch mit einer auf 36,6 Grad Celsius erwärmten zehnprozentigen Magnesiumsulfatlösung, um einen maximalen Auftrieb zu erhalten. So schwebte ein menschlicher Körper förmlich in völliger Stille und Dunkelheit. Ohne äußere Stimuli verlor man schon bald jegliches Gefühl für Raum und Zeit und tauchte in eine unglaubliche Welt der inneren Stimuli ein. Ein geschärftes Denkvermögen, Halluzinationen sowie ein verändertes, erweitertes Bewusstsein waren die Folge. Wie Catherine später erfahren hatte, waren solche Experimente, bei denen die psychische wie physische Normalität ausgehebelt wurde, sehr wirkungsvolle Methoden zur Gehirnwäsche und Folter.
Als der Junge in den Tank stieg, bestand für sie kein Zweifel mehr. Dieser Junge sollte gefoltert und zu diesem unmenschlichen Experiment gezwungen werden, und er würde ganz gewiss schwere psychische Schäden davontragen, ohne dass es später irgendwelche äußeren Anzeichen und Beweise dafür geben würde. So genannte Experten sprachen hier von der Weißen Folter, einer brutalen Methode, die in ihrer Nutzung und direkten Wirkung zwar unsichtbar war, die Psyche eines Menschen bisweilen jedoch dauerhaft verletzen und im schlimmsten Fall sogar zerstören konnte.
Die Luke wurde geschlossen, und Catherine starrte mit großem Widerwillen von außen auf den roten Tank. Himmel! Wer führte solche verabscheuungswürdigen Versuche mit Kindern durch?
Sie wollte die Luke aufreißen und den Jungen herausholen, aber plötzlich befand sie sich selbst in der schwerelosen Dunkelheit. Sie rief nach dem Jungen, sie schrie, klopfte vor seinen Augen gegen die Wand aus Metall, doch er zeigte keinerlei Reaktion.
Dafür sah Catherine ein anderes Gesicht. Das Gesicht jenes Mannes, der wie eine dunkle Verheißung neben seiner Frau und seinen beiden Kindern gestanden hatte, während die Frau ihre Kinder liebkost hatte. In dem Moment wurde ihr bewusst, dass sie für ihre Vision einen Preis zu zahlen hatte. Niemand blickte ungestraft hinter die Kulissen des Schicksals der Welt.
Etwas Dunkles, abgrundtief Böses berührte sie in ihrem Traum und trank einen winzigen, aber spürbaren Schluck ihrer Seele, nährte sich wie eine Spinne von ihr.
Catherine schnappte nach Luft, schrak aus dem Schlaf hoch und fiel mit einem lauten Poltern aus dem Bett.
Zugleich hatte sie das Gefühl, sowohl zu ertrinken als auch zu verdursten. Sie spürte den Verlust dieses winzigen Tropfens ihres Selbst bis ins Mark.
Ihre Augen funkelten ebenso wütend wie die des Jungen.
30.
Der Unterricht war so öde und langweilig verlaufen wie jeden Tag, seit Aaren nicht mehr da war und David niemanden mehr hatte, mit dem er sich die Pausen vertreiben konnte. Die Lehrer und Lehrerinnen hatten ihr Programm wie Roboter durchgezogen, und die Schüler hatten wie Roboter zugehört. Zumindest hatte David es so empfunden und sich so sehr gelangweilt, dass er beinahe eingeschlafen wäre. Na ja, vielleicht hatte es aber auch daran gelegen, dass er die halbe Nacht kein Auge zugetan hatte, weil er ständig an Aaren und an das seltsame Verhalten von Ambrose denken musste. Und an das Foto, das er in der Zeitung entdeckt und am liebsten noch in derselben Stunde sondiert hätte, was ohne den Schutz der Isolationskammer jedoch zu gefährlich gewesen war.
Nach dem Unterricht zog David sich in sein Zimmer zurück, zu seinen Büchern, seinen Tagträumen und zu seiner Malerei. Niemand hatte ihn als Künstler ausgebildet. Die Maltechniken in Öl, Acryl,
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