Engelsrache: Thriller

gewähren«, sagte ich. »Kommen Sie doch einfach gegen vier zu mir ins Büro, dann können wir uns gemeinsam anschauen, was die Staatsanwaltschaft gegen Angel in der Hand hat.«
    »Einverstanden, mein Lieber.«
    Während der kleinen Unterhaltung mit Erlene sah ich, dass Testers Sohn weiter hinten im Gang an der Wand lehnte und in meine Richtung starrte. Aus seinem Blick sprach blanker Hass.
    30. April
    16:00 Uhr
    Lange bevor ihre Familie Erlene verstoßen hatte, weil sie mit Gus durchgebrannt war, hatte ihre Großmutter ihr die Tugend der Pünktlichkeit beigebracht, »Unpünktlichkeit ist unhöflich und ein Zeichen von mangelndem Charakter.« Erlene wollte aber keinesfalls, dass Mr Dillard an ihrem Charakter zweifelte. Deshalb traf sie bereits zehn Minuten zu früh in seinem Büro ein. Joe Dillard war ein groß gewachsener, gut aussehender Mann – genau wie Gus. Wäre Erlene jünger gewesen und hätte Gus ihr nicht so viel bedeutet, hätte sie womöglich ernsthaft daran gedacht, Mr Dillard zu verführen. Er trug dunkle Anzüge und farbige Hemden, geschmackvolle Krawatten und elegante Schuhe. Sein gewelltes Haar war pechschwarz und nur an einigen Stellen grau meliert, und er hatte grüne Augen und die hübschesten Grübchen, die Erlene je gesehen hatte. Außerdem konnte er sich gut ausdrücken und war zweifellos ein sehr intelligenter Mann. Das Honorar, das er für Angels Verteidigung verlangt hatte, erschien Erlene zwar ein wenig übertrieben, aber wenn er das Mädchen freibekam, war er jeden Cent wert. Außerdem brachte das Honorar Erlene durchaus nicht ins Armenhaus. Wäre Mr Dillard über ihren Kontostand informiert gewesen, hätte er gewiss das Doppelte verlangt. Gus hatte nicht nur mit den Striptease-Clubs einen Haufen Geld verdient, sondern außerdem lukrative Geschäfte gemacht und ihr noch dazu mehrere hohe Lebensversicherungen hinterlassen. Bei der Testamentseröffnung hatte der Notar sie sogar mit dem Ölmagnaten Jed Clampett aus der Fernsehserie The Beverly Hillbillies verglichen.
    Mr Dillard bot ihr einen Platz an. Der ganze Tisch war mit Papieren bedeckt.
    »Haben Sie mit Angel gesprochen?«, fragte er.
    »Sie hat mich vorhin angerufen. Das arme Kind fürchtet sich zu Tode. Der Auftritt dieses Verrückten im Gerichtssaal hat ihre Stimmung auch nicht gerade gehoben.«
    »Bei dem jungen Tester kann man es wirklich mit der Angst zu tun bekommen. Haben Sie gesehen, wie der mich draußen auf dem Gang angestarrt hat? Ich habe schon gedacht, dass er mir jeden Augenblick an die Gurgel geht. Deshalb wollte ich ja, dass wir die Hintertreppe nehmen.«
    Auch wenn Mr Dillard diesen Tester bedrohlich fand, Erlene hatte vor dem Kerl keine Angst. Es gab überhaupt keinen Mann, vor dem sie Angst hatte. Eines hatte sie in den vergangenen dreißig Jahren im Rotlichtmilieu gelernt: wie sie mit Männern umzuspringen hatte. Sie wusste genau, wie man die Herren der Schöpfung aufbauen, aber auch, wie man sie fertigmachen konnte.
    Wie sie einen Prediger zu behandeln hatte, wusste Erlene schon lange. Als sie damals mit Gus in Nordost-Tennessee gelandet war, hatten die Prediger der Gegend den Aufstand geprobt und wollten verhindern, dass die beiden dort einen Club eröffneten. Sogar den County-Bevollmächtigten hatten die geistlichen Herren unter Druck gesetzt, außerdem Demonstrationen veranstaltet und in den Nachrichten leidenschaftliche Erklärungen abgegeben. Das heißt, sie hatten alles in ihrer Macht Stehende unternommen, um Erlene und Gus in ein schlechtes Licht zu rücken, aber die beiden kannten das schon. Sie engagierten gute Anwälte, schoben insgesamt an die dreißigtausend Dollar an Anwaltsgebühren und zwanzigtausend Dollar Bestechungsgeld über den Tisch. Die ganze Prozedur hatte länger als ein Jahr gedauert, aber dann hatten sie ihre Lizenz und die erforderlichen Genehmigungen schließlich doch noch bekommen. Der erste Club, den sie hochzogen, wurde gleich nach der Fertigstellung abgefackelt. Also bauten sie den Club wieder auf, doch auch diesmal ging der Schuppen in Flammen auf. Allerdings war Gus schlau genug gewesen, rings um das Gebäude Überwachungskameras anbringen zu lassen. Und das Überwachungsvideo erbrachte den Beweis, dass ein Prediger namens Hastings den Brand gelegt hatte. Der Mann landete im Knast. Obwohl Erlene und Gus danach nicht mehr behelligt wurden, konnte Erlene Prediger seither nicht mehr ausstehen. Ein verlogenes Pack war das – ja genau.
    »Erlene«, sagte Mr Dillard, »ich habe heute