Engelsrache: Thriller
er erst richtig los. Er erzählte ihr von seiner drogensüchtigen Mama und dass die Polizei seinen Papa abgeholt und in den Knast gesteckt hatte. Wenigstens in diesem einen Punkt sprach Maynard sogar die Wahrheit. Er erzählte Bonnie, dass er als Kind jeden Abend hungrig ins Bett gegangen sei – eine dreiste Lüge. Er erzählte ihr, dass er nicht mal passende Schuhe gehabt hatte. Noch so eine Lüge, die Bonnie mit lautem Schluchzen quittierte. Als Maynard sie so weinen sah, musste er an seine kleine Cousine denken, die er früher häufig zum Weinen gebracht hatte. Wann immer die Mutter des Mädchens gerade abgelenkt gewesen war, hatte er das kleine Miststück in den Arm gekniffen. Die Kleine hatte jedes Mal angefangen zu heulen wie ein Krankenwagen. Trotzdem war ihm nie jemand auf die Schliche gekommen. Kein Wunder, bei seiner Cleverness.
Vier Tage vor Prozessbeginn sorgte Maynard dafür, dass Bonnie ihn noch mal besuchen kam. Jetzt musste er alles auf eine Karte setzen.
»Der einzige Mensch, der mich manchmal besucht, bist du«, sagte er und sah die ebenso schlichte wie füllige Brünette auf der anderen Seite des Tisches an. »Außerdem bist du der einzige Mensch, dem ich vertraue.« Er beobachtete sie genau. Sie saß da und sah ihn gerührt mit großen Augen an.
»Deshalb möchte ich dir für alles danken, was du für mich getan hast, Bonnie«, sagte Maynard. »Du hast mir neue Hoffnung gegeben, als ich mich schon aufgegeben hatte.« Maynard musste sich zusammenreißen, damit er nicht anfing, dummes Zeug zu reden. Bonnie Tate sei so hässlich, dass sie jeden Zug zum Entgleisen bringen könne, hatte er einigen Mithäftlingen anvertraut.
»Ich muss ständig an dich denken, Bonnie. Jede Nacht träume ich von dir. Ja, ich glaube, dass ich dich liebe.«
Sie sah ihn mit feuchtglänzenden Augen an. Die Braut fiel tatsächlich darauf herein.
»Und umgekehrt, Bonnie – liebst du mich auch?«
Sie nickte. »Ja, ich glaube schon, Maynard.«
»Wenn ich hier je wieder rauskomme, würdest du dann bei mir bleiben, Bonnie? Bitte sag, dass du bei mir bleibst. Ich wünsche mir nichts so sehr.«
»Ja, ich glaube, dass ich bei dir bleibe.«
»Bonnie, ich muss dich unbedingt etwas fragen. Das ist sehr wichtig für mich, und du darfst niemandem was davon sagen. Kann ich dir wirklich vertrauen?«
»Das weißt du doch, Maynard.«
»Wenn ich dir erkläre, wie ich hier rauskommen kann, würdest du mir dann helfen? Würdest du das für mich tun, Bonnie? Es gibt für mich nur diese eine Chance. Wenn du mir nicht hilfst, bringen sie mich um.«
»Ja, ich helfe dir«, sagte sie.
»Also gut«, sagte Maynard. »Du musst jetzt ganz genau zuhören und das tun, was ich dir sage.«
2. Juli
9:05 Uhr
Ich ging um kurz nach neun in den Gerichtssaal, in dem Richter Glass seine Verhandlungen führte, und setzte mich ganz hinten hinter eine Säule, wo der Richter mich nicht sehen konnte. Sarah und ihr Pflichtverteidiger hatten mit der Staatsanwaltschaft vereinbart, dass meine Schwester vor Gericht ein Geständnis ablegen würde. Zu meiner Erleichterung war auf der Geschworenenbank kein einziger Presse-mensch zu sehen.
Ich hatte die halbe Nacht nicht geschlafen, weil ich ständig an Sarah hatte denken müssen. Seit sie meiner Tochter das Auto und meiner Frau den Schmuck gestohlen hatte, war einige Zeit vergangen, deshalb hatte sich meine Wut inzwischen gelegt. Ich war zwar immer noch der Meinung, dass Sarah eine Strafe verdient hatte, aber ein Gefängnisaufenthalt würde ihr gewiss nicht guttun. Ohnehin hatte ich noch nie einen Menschen kennengelernt, dem ein Gefängnisaufenthalt geholfen hatte.
Sarah hatte eingewilligt, sich des schweren Diebstahls in zwei Fällen schuldig zu bekennen, das Strafmaß von zweimal drei Jahren Gefängnis zu akzeptieren und auf einen Antrag auf eine bedingte Strafaussetzung zu verzichten. Die beiden dreijährigen Haftstrafen sollten nach drei Jahren als abgegolten gelten. Nach den Gesetzen des Staates Tennessee hatte Sarah eigentlich das Recht, nach zehn Monaten einen Antrag auf eine bedingte Strafaussetzung zu stellen. Ich hatte die feste Absicht, mich vor dem Bewährungsgericht für sie einzusetzen. Da die Haftanstalten in dem Bundesstaat völlig überfüllt waren, wurden Gefangene, die weniger als drei Jahre absitzen mussten, in die Bezirksgefängnisse überführt. Das bedeutete, dass Sarah nicht in das Frauengefängnis in Nashville überstellt wurde, sondern in der Haftanstalt von Washington County
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