Engelsrache: Thriller
Uhr
Als meine Mutter in das Pflegeheim gezogen war, hatten wir mehrere Möbel aus ihrem Haus mitgenommen – eine Ankleidekommode, ein paar Beistelltische, eine Lampe und einen Sessel –, weil wir ihr den Übergang erleichtern und es ihr dort gemütlich machen wollten. Ich hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, Fotografien aufzuhängen. Eines der Bilder, auf dem mein Vater im Football-Trikot seiner Highschool zu sehen war, hing gleich rechts vom Fernseher. Ma hatte mich damals gebeten, es dort aufzuhängen, damit sie es vom Bett aus sehen konnte. Inzwischen wusste sie schon nicht mehr, wer auf dem Foto abgebildet war.
Als ich um sieben Uhr früh bei ihr ankam, lag sie auf dem Bett und starrte ins Leere. Schon seit Wochen hatte sie kein Wort mehr gesprochen, sie war inkontinent, der Speichel lief ihr aus dem Mund, und auf dem Kissenbezug hatte sich ein großer feuchter Fleck gebildet. Ich holte einen frischen Bezug aus dem Schrank und rief dann eine Schwesternhelferin. Während die junge Frau Ma die Windel wechselte, wartete ich draußen auf dem Gang. Es selbst zu tun, brachte ich einfach nicht über mich.
Als das Mädchen fertig war, ging ich zu meiner Mutter ins Zimmer und setzte mich neben ihrem Bett auf den Stuhl. Seit dem Tag, als ich ihr erzählt hatte, was Raymond damals getan hatte, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, mit ihr zu sprechen, obwohl sie kein Wort verstand. Meine Besuche waren für mich neuerdings fast so etwas wie Therapiestunden. Ich sprach vor allem über meine Mandate und über die endlosen Konflikte, in die meine Arbeit mich stürzte.
»Ich bin echt ein Glückspilz«, sagte ich. »Da habe ich endlich mal eine Mandantin, die unschuldig ist, und dann stellt sich heraus, dass der Sohn des Mordopfers ein Psychopath ist. Und jetzt haben wir alle ganz fürchterliche Angst. Wir überprüfen jeden Abend, ob wirklich alle Fenster und Türen geschlossen sind, und ich habe im ganzen Haus Waffen versteckt. Außerdem drehen wir uns ständig um und schauen beim Autofahren pausenlos in den Rückspiegel. Total verrückt.« Ich stöhnte.
»Aber weißt du, was? Das ganze Strafsystem ist komplett verrückt. Da bin ich nun schon seit über zehn Jahren jeden Tag in dieser völlig verlogenen und betrügerischen Welt unterwegs. Das Wort Anstand kannst du dort vergessen. Ein durch und durch krankes Spiel, und am Ende gewinnt derjenige, der am besten lügt. Man bezeichnet diese Welt auch als das Justizsystem. Was für ein Dreck. Die Angeklagten lügen und betrügen, die Polizisten lügen und betrügen, die Staatsanwälte lügen und betrügen, die Strafverteidiger lügen und betrügen, und die Richter … am besten, ich fange davon erst gar nicht an. Das amerikanische Rechtssystem würde sich selbst den größten Gefallen tun, wenn es sich der Hälfte der amtierenden Richter entledigen und noch mal ganz von vorn anfangen …«
Mein Handy klingelte – Caroline.
»Deacon Baker hat gerade angerufen. Man hat Julie Hayes gestern tot in ihrer Wohnung gefunden. Er hat gesagt, dass du bei ihm vorbeischauen sollst. Er will dir einen Deal vorschlagen.«
Ich neigte mich nach vorn und küsste meine Mutter auf die Stirn, was ich nie tat, wenn sie bei Bewusstsein war.
»Ich liebe dich, Ma. Ich muss jetzt los, trotzdem bin ich froh über unser kleines Gespräch. Beim nächsten Mal erzähle ich dir die Geschichte von diesem Maynard Bush.«
11. Juli
9:00 Uhr
Deacon Baker und Frankie Martin erwarteten mich im Besprechungszimmer. In zwei Ecken des Raumes standen kleine Tische, die mit Plastikpflanzen bestückt waren, und an den Wänden waren Regale, vollgestopft mit längst überholter Fachliteratur und alten Polizeimagazinen. Die Zimmerdecke war niedrig, und mir fiel auf, dass sich oben in den Ecken Schimmel gebildet hatte. Die Beleuchtung war fast so schlecht wie im Gefängnis.
»Mr Dillard«, sagte Baker, als ich hereinkam, »meinen Assistenten Frankie Martin kennen Sie, glaube ich, bereits?«
»Richtig.« Ich schüttelte den beiden die Hand und setzte mich mit dem Rücken zur Wand an den langen Tisch. Baker und Martin saßen mir gegenüber. Baker sah aus wie ein Umpalumpa aus Willie Wonka und die Schokoladenfabrik. Er war klein, feist, hatte eine Glatze und trug stets Hosenträger. Außerdem rauchte er eine dicke Zigarre, obwohl das Rauchen in dem Gebäude untersagt war. Der Rauch stank ekelerregend.
»Na, haben Sie schon eine Strategie für das Verfahren?«, fragte ich. »Tut mir leid wegen der Zeugin.«
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