Engelsstern
eine betäubte, distanzierte Art, was mich zugleich erleichterte und entsetzte. Alle möglichen Fragen kamen mir in den Sinn, was sollte ich zu ihren Eltern sagen, oder ging es, gar nichts zu sagen? Würde Ryan da sein? Würden Brynn und ihre Anhängsel es wagen, dort aufzutauchen?
Heute war die Trauerfeier. Morgen folgte dann die Leichenschau, am Tag danach die Beerdigung. In meinem Kopf ging alles drunter und drüber, die Gedanken verschnürten sich zu einem riesigen Knoten. Die Verantwortung lag schwer auf meinen Schultern, so viel hing von mir ab, dass ich das Gefühl hatte, eigentlich wäre ich besser woanders.
Als wir in der Nähe der Kirche um eine scharfe Kurve fuhren, bemerkte ich im Seitenspiegel einen grauen Jeep.Er lag zwei Autos hinter uns, konnte aber mit dem eigenwilligen Fahrstil meiner Mutter mühelos mithalten. Ich lächelte.
Die Kirche war alt und hatte Holzbänke, die durch jahrelanges Sitzen glatt poliert waren und unsere Hinterteile taub werden ließen. Die Kirche strömte einen alten, tröstlichen Geruch aus, den ich nie ganz benennen konnte, den ich aber seit meiner Kindheit jeden Sonntag eingeatmet hatte. Manchmal roch es nach Weihrauch, besonders an Feiertagen, aber das ließ sich in keinster Weise mit Garreths verführerischem Duft vergleichen. Ich schloss die Augen, um mich besser an den Geruch seiner Haut erinnern zu können. Dann öffnete ich die Augen und sah mich in der Hoffnung nach ihm um, ihn irgendwo stehen zu sehen, aber die Kirche war zu voll.
Menschen drängten herein und suchten sich Plätze auf den Kirchenbänken. Ich wollte ihre unbehaglichen Blicke vermeiden und starrte unverwandt zu Boden. Trotzdem spürte ich, dass ich beobachtet wurde, und hörte das Flüstern von Claires Verwandten, die auf mich zeigten. Die Sonne ging langsam unter und tauchte alles in ein warmes orangefarbenes und lila Licht, den Raum, die Nasen der Leute in der vierten Reihe, das kleine Kabinett mit der Hostie neben dem Altar.
Die ersten fünf Minuten der Predigt bekam ich noch mit, dann gingen meine Gedanken wie immer ihre eigenen Wege. Diesmal blendete ich die Worte des Pfarrers allerdings geradezu bewusst aus. Er hatte keine Ahnung, wie Claire gewesen war, ich fand das unerträglich. MeineAugen suchten den Raum ab, ich erwiderte das Lächeln einer Frau in einem violetten Kostüm.
Was würde wohl passieren, wenn ich nach vorne zum Altar gehen und allen erzählen würde, wie Claire gestern Nacht gewesen war?
Hey, Leute. Claire hat mich zu einer wilden Party geschleppt, ihr hättet ihre weißen Augen sehen sollen. Sie hat sogar gefälschte Ausweise besorgt. Was soll ich sagen, sie hat die letzten Momente ihres Lebens mit wunderbaren, liebevollen Freunden verbracht. Mit mir? Ach was. Ich habe sie im Stich gelassen und bin mit meinem Freund abgehauen, der übrigens Flügel hat und mir hilft, den teuflischen Plan eines bösen Engels gegen die Menschen zu vereiteln. Wenn ihr also glaubt, eines Tages in den Himmel zu kommen, dann seid lieber nicht so sicher, weil unsere Zukunft in meinen Händen liegt!
Vielleicht war es doch klüger, dem Pfarrer die Bühne zu überlassen.
Ich wäre auf dem Weg in die Klapsmühle, bevor meine Mutter noch erklären könnte, dass ich am Morgen mit dem Kopf aufgeknallt war oder warum ich nach gebratenem Speck rieche.
Die tief stehende Sonne hatte die Gesichter in den Glasfenstern verdunkelt, sodass nur noch die Umrisse zu sehen waren. Neugierig betrachtete ich die leeren Ovale.
Merkwürdigerweise waren die Roben und Gewänder noch zu sehen, aber die Gesichter verschwunden, sie sahen hohl und gruselig aus.
Wie aufs Stichwort begann es draußen zu regnen, was die gedämpfte Atmosphäre in der Kirche noch verstärkte.Fasziniert sah ich den an den Fenstern herablaufenden Tropfen zu, die die Farben aus dem Glas wuschen, alles grau aussehen ließen und die gesichterlosen Konturen verwischten, von denen ich meine Augen nicht lassen konnte.
Besonders eine Gestalt hielt mein Interesse gefangen. Praktischerweise befand sie sich direkt über unserer Kirchenbank, was den unerwünschten Blickkontakt mit anderen Anwesenden vermied. Das auf Glas gemalte Abbild verschwand nicht wie die anderen im Regenschleier. Es zeigte einen wunderschönen Engel mit ausgestreckten weißen Flügeln, der schützend über meinem Platz zu schweben schien. Zuerst dachte ich an meinen Engel und war sicher, dass das etwas zu bedeuten hatte. Aber dann merkte ich, dass die Gestalt ein weibliches Gesicht
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