Engelsstern
Garreth hatte recht, ich musste hier raus. Meine Beine trugen mich nur schwerfällig in Richtung Tür, als ob ich durch Pudding liefe, aber zum Glück schaffte ich es bis zum Lehrerpult. Ich nahm den Zettel, lächelte entschuldigend und ging aus dem Zimmer.
Davor stand bereits Garreth und wartete auf mich. In seinen blauen Augen lagen Verzweiflung und eine unaussprechliche Angst. »W ir müssen gehen. JETZT .«
Er gab mir seinen gelben Papierstreifen, auf dem »Entschuldigt« stand. Ich hatte ihn noch nie so voller Angst erlebt und wurde sofort selbst panisch. Hatte ich was damit zu tun? Ich wusste noch, dass ich im Traum jemanden herausgefordert hatte, denn jetzt war mir klar, dass es nur ein Traum gewesen sein konnte. Oder nicht?
»W oher wusstest du, dass ich aus dem Raum kommen würde?«
»Dafür ist jetzt keine Zeit, wir müssen weg.«
»Aber ich hatte so einen Traum, und …«
Garreth hielt kurz inne und legte seine beruhigenden Hände auf meine zitternden Schultern.
»Ich erklär’s dir, wenn wir im Auto sitzen. Vertrau mir, alles wird gut.« Er legte schützend seinen Arm um mich und schob mich aufs Sekretariat zu. »Lass mich reden.« Er öffnete die schwere Tür, ich folgte widerstrebend.
Ich stand neben ihm und verhielt mich so still wie möglich, während er mit den Fingern auf den langen Holztresen trommelte, bis eine verärgerte Sekretärin zuuns rüberkam. Sie nahm von Garreth die zwei Laufzettel entgegen und warf uns einen langen, misstrauischen Blick zu, bevor sie unterschrieb und sie zurückgab. Ich vermied den Blickkontakt mit ihr, in der Hoffnung, dass sie dies als Zeichen tiefer Trauer deuten und Mitleid haben würde, was unsere Flucht aus der Schule zumindest teilweise gerechtfertigt hätte.
So schnell die Schulregeln es zuließen, liefen wir zum Parkplatz. Ich saß schweigend im Jeep und wartete darauf, dass Garreths nächste Worte etwas Licht in das Ganze bringen würden, aber er blieb stumm. Er hielt das Lenkrad fest umklammert, als er vom Parkplatz auf die Hauptstraße abbog.
»Sagst du mir bitte, was los ist?«, fragte ich zu guter Letzt.
Seine Augen fixierten die Straße, als hätte er nur eins im Sinn, uns möglichst weit wegzubringen. Erst als eine vertraut aussehende Baumgruppe in Sicht kam, atmete er auf und war wieder der alte Garreth.
»Ich wusste, dass Hadrian näher kommen würde, und zwar bald, aber das hatte ich nicht erwartet.«
»W ovon redest du?«
»Je näher er kommt, desto mehr zapft er meine Kraft an, ich kann ihn dann nicht mehr spüren. Du schon. Dein Traum war kein Traum. Er war im Klassenzimmer.«
Okay, das machte mir nicht wenig Angst, das machte mir eine Heidenangst.
»Aber wenn du Hadrian nicht spüren kannst, wieso hast du dann vor dem Klassenzimmer gestanden?«
»Mal abgesehen davon, dass du geschrien hast wie am Spieß, spüre ich immer noch, wenn du mich brauchst. Du hast die Schule in ihren Grundfesten erschüttert.«
Super, noch ein Grund, die Schule zu wechseln.
Wir bogen scharf links in den schmalen Weg zwischen den Bäumen ab. Ich konnte es kaum erwarten, die kleine Steinkapelle wiederzusehen und alldem, was auf uns hereinprasselte, wenigstens für kurze Zeit zu entfliehen.
Wie beim ersten Mal war ich beim Anblick der schlichten Schönheit der Kapelle sprachlos: die alten Steine, die Holztür und die zerbrochenen bunten Glasfenster, umwuchert von Wurzeln und Unterholz, aus der Zeit gefallen. Irgendwas war anders, ich wusste nicht gleich, was, hatte aber den Eindruck, dass jemand auf der Lauer läge. Ich schüttelte das Gefühl ab. Nach der Nummer gerade im Geschichtsunterricht war es ja kein Wunder, dass meine Nerven blank lagen.
Er nahm meine Hand, langsam gingen wir auf die kleine Steinkapelle zu. Ab und zu sahen wir uns um, ob vielleicht jemand zwischen den Bäumen versteckt war. Alles sah aus wie beim letzten Mal, nichts war verändert, warum fühlte sich also alles so falsch an? Dann meldete sich wieder mein siebter Sinn und warnte mich davor, in die Kapelle zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, ob Garreth die Warnung auch empfing. Ich wusste nicht, wie viel Engelsspürsinn er noch hatte, und fand es mehr als verwirrend, dass ich jetzt die mit den übersinnlichen Wahrnehmungskräften war, nicht er. Eigentlich war er ja mein Beschützer, nicht umgekehrt.
Wie zuvor setzten wir uns auf einen umgestürzten Baum. Er nahm meine Hand, die, die brannte, und untersuchte sie so interessiert wie ein Arzt eine Laune der Natur – die dann wohl
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