Engelsstern
Garreth ließ den Motor an und drehte die Heizung auf.
»Du zitterst.« Er zog mich an sich und umhüllte mich mit Wärme.
»Hast du da eben nichts Komisches gespürt?«
Garreth schüttelte im schummrigen Licht langsam den Kopf. »W as hast du gespürt?«
Sein schönes Gesicht sah plötzlich jungenhaft unsicher aus. Er schien so unschuldig. Nein, er schien … menschlich.
»Ich weiß nicht genau, aber irgendwas stimmt da nicht.«
Die aufgedrehte Heizung taute mich langsam auf, aber ich hörte trotzdem nicht auf zu zittern.
»W as ist?«, fragte Garreth. Er beobachtete mich scharf, aber ich kramte in meinem Hirn herum und versuchte zu verstehen.
Ich seufzte tief auf. »Ich weiß es echt nicht. Offensichtlich kämpft Hadrian mit allen Mitteln. Seine Armee und so. Das sind schon so viele.« Ich schüttelte den Kopf, weil ich meine eigenen Worte nicht glauben wollte. »Ich sehe sie überall, die Leute, die ihre Schutzengel verloren haben. Dieser Junge neben mir in Geschichte, plötzlich war sein Schutzengel weg. Alles passiert so schnell, Garreth.«
Ich ließ meinen Kopf gegen die Lehne fallen und hielt mir die Hände vor die Augen. Innerlich tat mir alles weh. Ich hatte noch nicht mal richtig um Claire trauern können, und alles, was gerade passierte, war wie eine Episode aus The Twilight Zone im Schnellvorlauf, mit mir in der Hauptrolle.
Hadrian führte einen psychologischen Krieg, seine Opfer wurden mental vernichtet. Ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Lag das an Hadrian? Vielleicht stimmte es, dass er in kürzester Zeit alle in den Wahnsinn treiben würde, um herrschen zu können. Ich war aus einem guten Grund auserwählt, aber im Moment ergab der Grund keinen Sinn für mich. Zur Beruhigung sah ich auf meine Hand. Alles hat einen Grund. Nichts geschieht zufällig.
Sanft nahm Garreth meine Hand und legte noch eine zweite Gabe hinein. Aber die hier war hart und kalt und absolut todbringend.
Das Gewicht lag schwer in meiner Hand. Ich wagte nicht, mich zu rühren, und konnte die Augen nicht von dem absolut beängstigenden Messer abwenden, das Garreth mir in die Hand gelegt hatte. Er las die Verwirrung in meinen Augen.
»Das ist übrigens ein Dolch, kein Messer.« Mit einem Lächeln versuchte er, mich aus meiner Karnickel-vorm-Scheinwerfer-Trance herauszuholen.
»Oh nein. Jetzt sag nicht, dass ich ihn hiermit töten soll.«
»Das könnte sein, ja. Ich muss sicher sein, dass du vorbereitet bist, wenn es so weit ist. Und es könnte sehr bald so weit sein.«
Sein Blick war immer noch sanft, der Tonfall dagegen todernst. Ich sah das Messer – nein, den Dolch – an, drehte ihn hin und her und bewunderte seine Schönheit.
In den Goldgriff waren endlose Wellenlinien eingeritzt, ähnlich dem Symbol in meiner rechten Hand. Neugierig verglich ich die beiden Zeichen, sie sahen tatsächlich gleich aus. Als ich den Dolch in die rechte Hand nahm, lag er so warm auf meiner Haut, als wäre er lebendig. Der wunderschöne Griff zeigte den uralten Kampf der Erzengel im Himmel, auf der glänzenden Stahlklinge setzte sich die Geschichte fort. Ganz offensichtlich war der Dolch sehr alt und von unschätzbarem Wert.
»Es schockt mich schon, dass ein Engel so eine … Waffe hat.«
»Unter normalen Umständen vermeiden wir jede Art von Gewalt. Aber wie du weißt, ist das hier keine normale Situation. Außerdem hab ja nicht ich die Waffe in der Hand.«
Ich sah mein zweites Geschenk des heutigen Tages an und seufzte. »Er sieht alt aus.«
»Das ist er.«
»Gehört er – dir?«
»Für mich wurde er nicht gemacht.«
Garreths Stimme klang sicher und kräftig, aber nicht seine Worte waren mir auf einmal klar, sondern die Tatsache, dass die Zeit gekommen war. Ich hatte gerade die todbringende Waffe erhalten, mit der ich den schwarzen Engel vernichten würde. In dem Moment erkannte ich, wie unschätzbar der Kreislauf aus Zeit und Leben ist.
KAPITEL 21
Meine Mutter fragte nicht, warum ich so früh schon wieder zu Hause war. Sie sah mich nur ab und zu leicht besorgt an, als wir nach einem schweigsamen Abendessen den Küchentisch abräumten. Garreth hatte natürlich recht gehabt. Genau zehn Minuten, nachdem ich durch die Tür gekommen war, hatte die Konrektorin angerufen und gefragt, ob ich gut nach Hause gekommen wäre. Sie teilte mir auch mit, dass ich morgen selbstverständlich vom Unterricht befreit wäre, damit ich zu Claires Beerdigung gehen konnte. Genau fünf Minuten vor ihrem Anruf hatte ich beschlossen,
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