Engelsstern
dort nicht hinzugehen. Aber das behielt ich für mich.
Natürlich war das falsch. Meine Mutter und die anderen Erwachsenen würden mich sicher beschwören, dass ich nur so einen Schlussstrich ziehen konnte. Wahrscheinlich hatten sie recht, und tief in meinem Inneren stimmte ich auch zu. Damit wenigstens eine von uns die Kleinstfamilie vertreten konnte, würde meine Mutter erst nach der Beerdigung zur Arbeit fahren. Das verschaffte mir etwas Zeit, um mich vorzubereiten und nach einem schwarzenEngel Ausschau zu halten. Wenn das überhaupt möglich war. Ich hatte keine Ahnung, wie und wo ich anfangen sollte.
Inzwischen war es mir ein persönliches Anliegen, Hadrian aufzuspüren und den mir bestimmten Weg zu gehen – wegen Claire, und um nicht den Verstand zu verlieren. Niemand wusste, wie viel Zeit noch blieb. Niemand wusste, wer Hadrians nächstes Opfer sein würde. Niemand wusste, wann er bei mir auftauchen würde.
Zum Glück war das Haus leer gewesen, als ich dort ankam. So konnte ich unbeobachtet den verzierten Dolch unter meinem Bett verstecken, eingewickelt in ein dickes Handtuch und unter einem Stapel Zeitschriften begraben. Mir war angst und bange bei dem Gedanken an dieses Ding in meinem Zimmer. Ich kam mir vor, als hätte ich ein unschätzbar wertvolles Kunststück aus einem Museum geklaut. Sobald ich an den glänzenden Goldgriff und die silberne Klinge im Handtuch auch nur dachte, wurde mir schummerig, und es überlief mich heiß und kalt. Auf der Stirn meiner Mutter hatte sich deshalb bis zum Abend eine neue Falte gebildet.
»Schatz, geht es dir gut?«
»Alles in Ordnung, Mom«, antwortete ich hastig. Durch meinen Kopf schwirrten lauter Gedanken, die ich ihr unmöglich mitteilen konnte.
»V ielleicht hätten wir mit dir zum Arzt fahren sollen, als du gestern umgekippt bist. Ich mache mir Sorgen, dass du eine Gehirnerschütterung haben könntest.«
»W irklich, Mom. Alles okay.«
Dieses Mal legte ich mehr Gefühl in meine Antwort, in der Hoffnung, sie damit zu beruhigen. Aber sie biss nicht an, was ich auch nicht wirklich erwartet hatte. Meine Mutter machte sich aus Prinzip immer Sorgen. Wenn ich richtig darüber nachdachte, konnte ich mir das jedoch auch zunutze machen.
»W eißt du was, Mom, ich bin müde. Ich geh besser ins Bett.«
»Sicher, Liebes.«
Volltreffer. Noch ein besorgter Blick in meine Richtung. Ihre Mutterinstinkte liefen auf Hochtouren. Zum Glück war ich wirklich müde, sodass ich wahrscheinlich nicht mitbekommen würde, wenn sie in der Nacht nach mir sah.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Fernsehnachrichten zu und sagte mit einem Kopfschütteln: »Es ist so traurig, Teagan. Überall nur Zerstörung und Elend. Und man könnte selbst als Nächste dran sein, das macht einem wirklich Angst.«
Ich dachte an Claire. Zerstörung und Elend waren bereits in unser Leben eingedrungen. Ich schluckte einen Kloß im Hals runter. Wer hätte gedacht, dass Claire als Nächste dran sein würde, als wir über Madame Woo lachten, oder als sie meine Chips auffutterte? Unerwartet oder nicht, sie hatte es einfach nicht verdient, dass ein bösartiges schwarzes Monster mit Riesenflügeln und einem Symbol in der Hand ihrem jungen Leben ein Ende gesetzt hatte.
Meine arme Mutter. Sie hatte die Aufgabe, mich vorder Welt zu beschützen. Und keine Ahnung, was da in den nächsten ein, zwei Tagen auf uns zukommen würde. Wenn sie wüsste, was unter meinem Bett versteckt lag …
Ich starrte den Fernseher an. Überflutungen, Feuersbrünste, Mord, Hass … und so weiter und so fort. Luzifers Hölle. Ich stapfte die Treppe zu meinem Schlafzimmer hoch und wollte diesen Tag einfach nur noch hinter mir lassen. Zwar war ich total erschöpft, aber unter meinem Bett lag eine Waffe, und ich wusste, was ich damit zu tun hatte – ob ich überhaupt schlafen konnte? Aber kaum in der Waagerechten, war ich eingeschlafen … und träumte von der Beerdigung, zu der ich morgen nicht gehen würde.
Als ich die Augen aufmachte, war es dunkel. Ich lag ganz still und starrte an die Decke. Ein leises Rascheln hatte mich geweckt, ganz sicher. Meine Gedanken kehrten zurück zu der Beerdigung in meinem Traum, ich hatte mich selber an einem offenen Grab stehen sehen. Ich war als Einzige noch auf dem Friedhof, alle anderen waren gegangen. Alleine stand ich vor dem dunklen Loch, in das man Claire legen würde, sobald ich auch weg war. Ich bereute, ihr beim Rave nicht nachgegangen zu sein. Ich vermisste sie schrecklich.
Ein
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