Engelsstimme
im Keller. Die Hauptaktion war beendet, die Polizisten und die Leute von der Spurensicherung waren weg, das Zimmer war versiegelt worden. Erlendur hatte keine Eile. Das Einzige, wohin er sich zurückziehen konnte, war seine dunkle Wohnung in einem anonymen Wohnblock, wo er mit sich selbst allein war. Weihnachten bedeutete ihm nichts. Er bekam ein paar Tage frei, mit denen er nichts anfangen konnte. Seine Tochter würde ihn vielleicht besuchen, um geräuchertes Lammfleisch zu kochen. Manchmal brachte sie auch ihren Bruder mit. Und Erlendur saß herum und las, aber das machte er sowieso immer.
»Ihr solltet zusehen, dass ihr nach Hause kommt«, sagte er. »Ich werde noch ein bisschen bleiben. Mal sehen, ob ich es schaffe, mit diesem Empfangschef zu sprechen, der absolut unabkömmlich zu sein scheint.«
Elínborg und Sigurður Óli standen auf.
»Und was ist mir dir?«, fragte Elínborg. »Willst du nicht auch einfach nach Hause gehen? Weihnachten steht vor der Tür und …«
»Was ist eigentlich mit euch beiden los? Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?«
»Es ist Weihnachten«, sagte Elínborg seufzend. Sie zögerte. »Ach, vergiss es«, sagte sie dann. Sie und Sigurður Óli drehten sich um und verließen den Raum.
Erlendur saß eine Weile nachdenklich da. Er dachte an Sigurður Ólis Frage, wo er zu Weihnachten sein würde. Und jetzt auch noch Elínborgs Fürsorglichkeit! Er sah im Geiste seine Wohnung vor sich, den Sessel, den klapprigen Fernseher und die Bücher, mit denen die Wände voll gestellt waren.
Manchmal kaufte er sich zu Weihnachten eine Flasche Chartreuse und hatte ein Glas neben sich stehen, während er über Gefahren und Bergkatastrophen vergangener Zeiten las, wo die Menschen mangels anderer Transportmittel zu Fuß von einem Ort zum anderen gehen mussten und die Weihnachtszeit besonders gefahrvoll war. Die Leute ließen sich durch nichts abhalten, zu Weihnachten zu ihren Liebsten zu gelangen, sie kämpften gegen die Naturgewalten an, verirrten sich in tobenden Schneestürmen und kamen um, und für die Daheimgebliebenen verwandelte sich das Fest der Geburt des Erlösers in einen Albtraum. Einige wurden gefunden. Andere nicht. Wurden nie gefunden.
Das waren Erlendurs Weihnachtsgeschichten.
Der Empfangschef hatte das zur Livree gehörige Jackett ausgezogen und war schon im Mantel, als Erlendur ihn in der Garderobe antraf. Der Mann erklärte, todmüde zu sein und nach Hause zu seiner Familie zu wollen, wie alle anderen auch. Er hatte von dem Mord gehört, ja, schrecklich, er wusste aber nicht, was er dazu beitragen konnte.
»Wenn ich richtig verstehe, hast du ihn hier im Hotel mithin am besten gekannt«, sagte Erlendur.
»Nein, das ist nicht richtig«, sagte der Empfangschef und wickelte sich einen dicken Schal um den Hals. »Wer hat dir das gesagt?«
»Er unterstand aber doch dir, oder?«, fragte Erlendur und umging die Frage.
»Unterstand mir, ja, wahrscheinlich. Er war Portier, ich bin für die Rezeption zuständig, die Registration, das weißt du vielleicht. Weißt du, wie lange die Geschäfte heute Abend offen haben?«
Er schien nicht das geringste Interesse für Erlendur und seine Fragen zu haben. Erlendur ging das auf die Nerven. Außerdem ging ihm auf die Nerven, dass das Schicksal des Mannes im Keller augenscheinlich allen völlig egal war.
»Wahrscheinlich rund um die Uhr, ich weiß es nicht. Wer könnte wohl ein Interesse daran gehabt haben, deinen Portier zu erstechen?«
»Meinen? Er war nicht mein Portier. Er war der Portier des Hotels.«
»Und warum hatte er die Hosen runtergelassen und hatte ein Kondom am Schwanz? Wer ist bei ihm gewesen? Wer kam überhaupt zu Besuch bei ihm? Hatte er irgendwelche Freunde hier im Hotel? Hatte er irgendwelche Feinde? Weswegen wohnte er hier im Hotel? Was war da mit ihm vereinbart worden? Was hast du eigentlich zu verbergen? Warum kannst du mir nicht ganz normal antworten?«
»Hör zu, ich, was …?« Der Empfangschef verstummte. »Ich möchte nur so schnell wie möglich nach Hause«, sagte er schließlich. »Ich habe keine Antwort auf all deine Fragen. Weihnachten steht vor der Tür. Können wir uns nicht morgen unterhalten? Ich habe heute den ganzen Tag keinen Augenblick Ruhe bekommen.«
Erlendur schaute ihn an.
»Wir unterhalten uns morgen«, sagte er. Als er die Garderobe verließ, erinnerte er sich auf einmal an die Frage, die ihn seit seiner Unterhaltung mit dem Hotelmanager beschäftigt hatte. Er drehte sich um. Der Empfangschef war
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