Engelsstimme
vier Kindern, Einfamilienhaus und Sommerhaus, Konfirmationsfeiern und Abiturpartys, das älteste Kind bereits verheiratet, und wie sehr sie sich darauf freute, mit dem geliebten Ehegatten in Frieden alt zu werden.
»Vielen Dank«, sagte sie. »Das ist sehr nett. Aber … leider, ich kann nicht. Trotzdem vielen Dank.«
Sie nahm ihm die Tasche ab, die er für sie aufgehoben hatte, zögerte einen Augenblick, schaute ihn an und verließ dann das Hotel. Erlendur blieb halb benommen in der Garderobe zurück. Es war Jahre her, seit er zuletzt eine Frau eingeladen hatte. Sein Handy klingelte in der Jackentasche, er holte es geistesabwesend hervor und nahm den Anruf entgegen. Es war Elínborg.
»Jetzt kommt er in den Saal«, sagte sie beinahe im Flüsterton.
»Was?«, sagte Erlendur.
»Der Vater, er kommt gerade mit seinen beiden Rechtsanwälten herein. Weniger reicht wohl nicht, um ihn reinzuwaschen.«
»Sind viele Leute da?«, fragte Erlendur.
»Nein, nur ganz wenige. Ich glaube, das ist die Familie des Jungen mütterlicherseits, und dann noch ein paar Journalisten.«
»Was für einen Eindruck macht er?«
»Wie gewöhnlich ist ihm nicht das Geringste anzumerken, trägt Anzug und Krawatte, als wäre er auf dem Weg zu einer Vorstandssitzung. Der Mann hat keine Spur von Gewissen.«
»Doch«, sagte Erlendur. »Bestimmt hat er ein Gewissen.«
Erlendur war mit Elínborg ins Krankenhaus gefahren, sobald die Ärzte die Erlaubnis gegeben hatten, mit dem Jungen zu sprechen. Er war operiert worden und lag jetzt auf der Kinderstation mit anderen Kindern zusammen. An den Wänden waren Kinderzeichnungen, Spielzeug lag auf den Betten, wo Eltern auf der Bettkante saßen, die nach schlaflosen Nächten erschöpft aussahen, unendlich besorgt wegen ihrer Kinder.
Elínborg setzte sich zu ihm. Der Junge trug einen dicken Kopfverband, sodass man vom Gesicht fast nur den Mund und die Augen sah, die den Kriminalbeamten voller Misstrauen entgegenblickten. Der Arm war eingegipst und hing an einem Haken über dem Bett. Unter dem Oberbett zeichneten sich die Verbände ab. Sie hatten die Milz retten können. Der Arzt hatte gesagt, dass sie gern mit dem Jungen reden dürften, aber es stehe auf einem anderen Blatt, ob er mit ihnen reden wolle.
Elínborg begann damit, von sich selber zu erzählen, wer sie war und was sie für Aufgaben bei der Polizei hätte, und sie fügte hinzu, dass sie hinter denen her wäre, die ihn so zugerichtet hätten. Erlendur stand etwas abseits und verfolgte das Gespräch mit. Der Junge starrte Elínborg an. Sie wusste, dass sie eigentlich nicht mit ihm reden durfte, ohne dass ein Elternteil anwesend war. Sie hatten sich mit dem Vater im Krankenhaus verabredet, aber eine halbe Stunde war bereits verstrichen, ohne dass er aufgetaucht war.
»Wer hat das getan?«, fragte Elínborg endlich, als sie fand, dass sie zur Sache kommen konnte.
Der Junge blickte sie an und sagte keinen Ton.
»Wer hat dich so zugerichtet? Es ist ganz in Ordnung, wenn du mir das sagst. Die sollen nicht wieder über dich herfallen dürfen, das verspreche ich dir.«
Der Junge schaute zu Erlendur herüber.
»Waren das die Jungs in der Schule?«, fragte Elínborg. »Die großen Jungs? Wir wissen schon, dass zwei, von denen wir glauben, dass sie dich angegriffen haben könnten, richtige Rowdys sind. Sie haben schon früher andere Kinder angegriffen, aber nicht so schlimm. Sie behaupten, dass sie dir nichts getan haben, aber wir wissen, dass sie zu der Zeit in der Schule waren, wo du angegriffen wurdest. Bei ihnen war gerade die letzte Stunde zu Ende.«
Der Junge schaute Elínborg stumm an, während sie redete. Sie war in der Schule gewesen und hatte mit dem Rektor und den Lehrern gesprochen, sie war bei den beiden Jungen zu Hause gewesen und hatte die Familienverhältnisse erkundet und ihnen zugehört, als sie behaupteten, dem Jungen nichts getan zu haben. Der Vater des einen war im Knast.
In diesem Augenblick kam ein Kinderarzt in das Krankenzimmer. Er erklärte, dass der Junge der Ruhe bedürfe, sie sollten später wiederkommen. Elínborg nickte, und sie verabschiedeten sich.
Später am gleichen Tag war Erlendur ebenfalls mitgekommen, um den Vater des Jungen in seinem Haus aufzusuchen. Der Vater gab die Erklärung ab, dass er vormittags an einer wichtigen Telefonkonferenz mit Geschäftspartnern in Deutschland und Amerika teilnehmen musste und deswegen nicht ins Krankenhaus gekommen war. »Das hat sich ganz plötzlich ergeben«, sagte er.
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