Engelsstimme
Als er sich endlich freimachen konnte, hatten Elínborg und Erlendur das Krankenhaus gerade verlassen.
Während sie miteinander sprachen, fielen die schrägen Strahlen der Wintersonne durch die Wohnzimmerfenster und beleuchteten die Marmorfliesen auf dem Fußboden und den Teppich auf der Treppe zur oberen Etage. Elínborg, die da stand und seinen Erklärungen zuhörte, glaubte auf einmal einen Flecken auf dem Teppichboden, mit dem die Treppe ausgelegt war, zu erkennen, und dann noch einen auf der nächsten Stufe.
Kleine Flecken, fast unsichtbar, wenn nicht die Wintersonne so schräg ins Zimmer geschienen hätte.
Flecken, die beinahe aus dem Teppich entfernt worden waren und bei flüchtigem Hinsehen so wirkten, als sei das die Teppichstruktur.
Flecken, von denen sich herausstellte, dass es kleine Fußstapfen waren.
»Bist du noch dran?«, fragte Elínborg am Telefon. »Erlendur? Bist du noch dran?«
Erlendur kam wieder zu sich.
»Informier mich, wie’s läuft«, sagte er, und damit war das Gespräch beendet.
Der Oberkellner des Hotels war ein Mann um die vierzig, gertenschlank. Er trug einen schwarzen Anzug und hochglanzpolierte Lackschuhe. In einer Ecke des Speisesaals ging er die Listen mit den Tischreservierungen für den Abend durch. Nachdem Erlendur sich vorgestellt und gefragt hatte, ob er ihn einen Augenblick stören dürfe, blickte der Oberkellner langsam von dem abgegriffenen Reservierungsbuch hoch, und ein elegantes dünnes Oberlippenbärtchen und schwarze Bartwurzeln, die er bestimmt zweimal am Tag rasieren musste, kamen zum Vorschein, bräunlicher Teint und braune Augen.
»Ich habe Gulli eigentlich überhaupt nicht gekannt«, sagte der Mann, der Rósant hieß. »Schrecklich, was da mit ihm passiert ist. Habt ihr schon etwas herausgefunden?«
»Nichts«, sagte Erlendur kurz angebunden. Er dachte an die Laborantin − und an seine Tochter Eva Lind, die erklärt hatte, sie würde es nicht mehr durchhalten. Er wusste, was das zu bedeuten hatte, aber innerlich hoffte er, dass er sich irrte. »Jetzt an den Feiertagen ist ganz schön viel los, nicht wahr?«, sagte er.
»Wir versuchen, das Beste daraus zu machen. Jeder Tisch wird möglichst dreimal an einem Abend belegt, und das kann äußerst schwierig sein, weil manche Gäste der Meinung sind, dass sie das Büfett, wenn sie schon teuer dafür bezahlt haben, mit sich forttragen müssen. Der Mord im Keller hat nicht dazu beigetragen, unsere Situation zu verbessern.«
»Wohl nicht«, erwiderte Erlendur desinteressiert. »Du arbeitest dann also noch nicht lange hier, wenn du Guðlaugur gar nicht gekannt hast.«
»Nein, ich bin erst seit zwei Jahren hier. Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun.«
»Wer, glaubst du, hat ihn hier im Hotel am besten gekannt? Oder überhaupt gekannt.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte der Oberkellner und strich sich mit dem Zeigefinger über diesen Strich von einem Schnurrbart. »Ich weiß gar nichts über diesen Mann. Vielleicht die Putzmannschaft? Wann bekommt man über die Ergebnisse der Speichelproben Bescheid?«
»Bescheid worüber?«
»Wer bei ihm war. Ist das nicht so ein DNA-Test?«
»Ja«, sagte Erlendur.
»Müsst ihr das womöglich ins Ausland schicken?«
Erlendur nickte.
»Weißt du, ob er hier im Keller Besuch bekommen hat? Von Leuten, die nichts mit dem Hotel zu tun haben?«
»Hier ist immer so viel Betrieb. So ist es halt in Hotels. Die Leute laufen wie die Ameisen raus und rein, rauf und runter, nie herrscht Ruhe. In der Hotelfachschule wurde uns beigebracht, dass es im Hotel nicht um das Gebäude geht oder die Zimmer, sondern um Menschen. Im Hotel dreht sich alles um Menschen. Nichts anderes. Wir haben dafür zu sorgen, dass sie sich wohl fühlen. Sich wie zu Hause fühlen. So ist es in Hotels.«
»Ich will versuchen, mir das zu merken«, sagte Erlendur und bedankte sich bei ihm.
Er ließ abchecken, ob Henry Wapshott inzwischen ins Hotel zurückgekehrt war, was aber nicht der Fall war. Doch immerhin war inzwischen der Empfangschef zur Arbeit erschienen und begrüßte Erlendur. Wieder hatte ein Bus vor dem Hotel gehalten, voll mit Touristen, die ins Foyer drängten. Der Empfangschef lächelte Erlendur verlegen zu und zuckte mit den Achseln, als sei es nicht seine Schuld, dass keine Zeit für ein Gespräch war und man auf bessere Zeiten warten müsste.
Sieben
Guðlaugur Egilsson hatte 1982 seine Tätigkeit in dem Hotel aufgenommen. Damals war er achtundzwanzig Jahre alt. Zuvor hatte er
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