Engelsstimme
Skandinavien zu machen, um sich die Welt zu Füßen zu legen. Heutzutage kennt niemand mehr diesen Jungen, außer einigen spleenigen Schallplattensammlern. Was ist damals passiert?«
Die Adlernase senkte sich, und die Dorschaugen verloren ihre Starre, während Erlendur redete. Der alte Mann schlug die Augen nieder und schaute auf den Tisch, und die Frau, die sich zwar immer noch an Wohlanständigkeit und Dünkel zu klammern versuchte, schien sich ihrer Sache nicht mehr ganz so sicher zu sein.
»Was ist passiert?«, wiederholte Erlendur und erinnerte sich mit einem Mal daran, dass er die Platten aus Guðlaugurs Kabuff oben bei sich auf dem Zimmer hatte.
»Nichts ist passiert«, sagte der alte Mann. »Er verlor seine Stimme. Er kam früh in die Pubertät und verlor mit zwölf Jahren seine Stimme, und damit hatte sich die Sache.«
»Konnte er danach nicht mehr singen?«, fragte Elínborg. »Seine Stimme war hässlich«, sagte der alte Mann verärgert. »Es war gar nicht möglich, ihn auszubilden. Ihm konnte nicht geholfen werden. Er hatte einen Widerwillen gegen das Singen entwickelt. Er wurde aufsässig und neigte zu Wutanfällen, er war einfach gegen alles. Gegen mich. Gegen seine Schwester, die versuchte, alles für ihn zu tun, was in ihrer Macht stand. Er hat mich sogar angegriffen und mir die Schuld an allem gegeben.«
»Falls es keine weiteren Fragen gibt …«, sagte die Frau und schaute Erlendur an. »Haben wir nicht genug gesagt? Reicht euch das nicht?«
»Wir haben nicht viel in Guðlaugurs Kammer gefunden«, sagte Erlendur und tat, als hätte er sie nicht gehört. »Wir haben seine Schallplatten gefunden und zwei Schlüssel.« Er hatte sich die Schlüssel wieder von der Spurensicherung zurückschicken lassen. Er zog sie aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Sie hingen an einem Schlüsselbund mit einem kleinen Taschenmesser, das in einer rosa Plastikhülle steckte. Auf einer Seite war ein Pirat mit Holzbein und schwarzer Augenklappe abgebildet, unter dem Bild stand pirat.
Die Frau warf einen raschen Blick auf die Schlüssel und erklärte, sie nicht zu kennen. Der alte Mann setzte sich die Brille auf der Nase zurecht und schaute sich die Schlüssel an, schüttelte aber dann den Kopf.
»Hast du Platten von ihm gefunden?«, fragte die Frau.
»Zwei«, sagte Erlendur. »Wurden noch mehr Aufnahmen mit ihm gemacht?«
»Nein, es gibt keine weiteren Aufnahmen mit ihm«, sagte der alte Mann und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Erlendur hinüber, blickte dann aber schnell wieder weg.
»Können wir diese Platten bekommen?«, fragte die Frau. »Ich gehe davon aus, dass ihr alles erbt, was er hinterlässt«, antwortete Erlendur. »Wenn die Ermittlung unserer Meinung nach beendet ist, wird euch alles zugestellt, was er hatte. Er hatte doch keine anderen Angehörigen, oder doch? Keine Kinder? Wir haben diesbezüglich noch keine gesicherten Ergebnisse.«
»Ich weiß nur, dass er allein stehend war«, sagte die Frau. »Können wir euch mit sonst noch etwas behilflich sein?«, fragte sie dann in einem Ton, dass man glauben mochte, sie hätte einen großartigen Beitrag zu den Ermittlungen geleistet, weil sie sich der Mühe unterzogen hatten, ins Hotel zu kommen.
»Es war nicht seine Schuld, dass er in die Pubertät kam und die Stimme verlor«, sagte Erlendur. Er fand diese Gleichgültigkeit und dieses arrogante Benehmen unerträglich. Ein Sohn war gestorben. Ein Bruder war ermordet worden. Trotzdem schien es, als sei nichts vorgefallen. Als ginge sie das alles überhaupt nichts an. Als sei sein Leben schon lange nicht mehr Teil des ihrigen gewesen, aus einem Grund, den sie Erlendur nicht nennen wollten.
Die Frau blickte Erlendur an.
»Falls es also sonst nichts mehr gibt«, sagte sie ein weiteres Mal und löste die Bremsvorrichtung.
»Wir werden sehen«, sagte Erlendur.
»Du findest, dass wir nicht genügend Anteilnahme zeigen«, sagte sie plötzlich.
»Ich finde, ihr zeigt überhaupt keine Anteilnahme«, sagte Erlendur. »Aber das geht mich nichts an.«
»Nein«, sagte die Frau, »das geht dich nichts an.«
»Was ich nur zu gerne wissen möchte: Habt ihr überhaupt keine Gefühle für diesen Menschen gehabt? Er war dein Bruder.« Erlendur wandte sich zu dem alten Mann im Rollstuhl. »Dein Sohn.«
»Er war ein Unbekannter für uns«, sagte die Frau und stand auf. Das Gesicht des alten Manns verzerrte sich.
»Weil er eure Erwartungen nicht erfüllt hat?« Erlendur stand ebenfalls auf. »Weil er
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