Engelsstimme
euch als Zwölfjähriger enttäuscht hat. Er war ein Kind. Was habt ihr gemacht? Habt ihr ihn rausgeworfen? Habt ihr ihn auf die Straße gesetzt?«
»Wie können Sie es wagen, so mit uns zu reden?«, sagte die Frau mit zusammengebissenen Zähnen und hatte auf einmal angefangen, Erlendur auf arrogante Weise zu siezen. »Wie können Sie es wagen! Wer hat Sie zum Gewissen der Welt bestellt?«
»Wer hat Ihnen das Gewissen genommen?«, stieß Erlendur hervor und legte spezielle Betonung auf das ›Ihnen‹.
Sie starrte Erlendur wütend an. Dann schien sie auf einmal genug zu haben. Sie wandte sich ruckartig dem Rollstuhl zu, drehte ihn vom Tisch weg und schob ihn aus der Bar hinaus. Schnell durchquerte sie die Lobby in Richtung Drehtür. Aus der Lautsprecheranlage drang die wehmütige Stimme einer isländischen Opernsängerin … Rühr meine Harfe an, du himmlisch schöne Fee … Erlendur und Elínborg gingen hinter den beiden her und beobachteten, wie sie das Hotel verließen, die Frau kerzengerade, aber der alte Mann noch mehr in sich zusammengesunken, man sah von ihm nur den zittrigen Kopf über der Rückenlehne.
… und manche bleiben Kind ihr Leben lang …
Zwölf
Als Erlendur kurz nach Mittag auf sein Zimmer ging, hatte der Empfangschef einen Schallplattenspieler und zwei Lautsprecher installieren lassen. Das Hotel verfügte über einige alte Plattenspieler, die aber lange nicht benutzt worden waren. Erlendur hatte selber einen und fand ziemlich schnell heraus, wie dieser zu bedienen war. Er besaß keinen CD-Player und hatte sich deshalb seit Jahren keine neuen Platten mehr gekauft. Er hörte sich auch keine moderne Musik an. In der Arbeit hatte er etwas von Hip-Hop gehört und lange geglaubt, das wäre ein neuer Ausdruck für Seilchenspringen.
Elínborg war auf dem Weg nach Hafnarfjörður. Erlendur hatte sie damit beauftragt, Nachforschungen darüber anzustellen, in welche Volksschule Guðlaugur gegangen war. Er hatte den Vater oder die Schwester fragen wollen, aber dazu war es nicht gekommen, da die Begegnung ein so abruptes Ende genommen hatte. Er würde sich auch noch einmal mit Vater und Tochter unterhalten müssen. In der Zwischenzeit sollte Elínborg aber Leute ausfindig machen, die den Kinderstar gekannt hatten, und sich mit denen unterhalten, die mit ihm zur Schule gegangen waren. Erlendur wollte in Erfahrung bringen, welchen Einfluss die vermeintliche Berühmtheit auf den Jungen in diesem Alter gehabt hatte und wie seine Schulkameraden darauf reagiert hatten. Ebenso interessierte ihn, was passiert war, als er seine Stimme verlor. Was in den darauf folgenden Jahren aus ihm geworden war. Vielleicht konnte sich jemand daran erinnern, ob der Kinderstar damals Feinde gehabt hatte.
Während sie in der Lobby standen, erläuterte er das so ausführlich für Elínborg, dass man ihr ansehen konnte, wie genervt sie war. Ihrer Meinung nach musste ihr nicht jeder Schritt in allen Einzelheiten auseinander gelegt werden. Sie wusste, um was es ging, und war durchaus imstande, sich selber eine Marschroute zurechtzulegen.
»Und anschließend darfst du dir unterwegs ein Eis kaufen«, sagte er, um sie noch etwas mehr zu necken. Sie gab ein paar verächtliche Kommentare über Machotum von sich und verschwand durch die Tür.
»Wie erkenne ich diesen Wapshott?«, sagte eine Stimme hinter ihm, und als er sich umdrehte, stand Valgerður vor ihm mit ihrem Köfferchen in der Hand.
»Ein ziemlich mitgenommener und glatzköpfiger Engländer mit total verschandelten Zähnen, der Chorknaben sammelt«, sagte Erlendur. »Den kannst du nicht verpassen.«
Sie lächelte.
»Verschandelte Zähne?«, sagte sie. »Und sammelt Chorknaben?«
»Das ist eine sehr, sehr lange Geschichte, die ich dir irgendwann einmal erzählen werde. Wie steht’s mit all den Speichelproben? Dauert das nicht unendlich lange?«
Er war auf eine ungewohnte Weise froh, sie wiederzusehen. Sein Herz schien einen Schlag auszusetzen, als er ihre Stimme hinter sich vernahm. Seine Melancholie wich für einen Augenblick, und in seine Stimme kam Leben. Er holte tief Luft.
»Ich weiß nicht, wie das gehen soll«, sagte sie. »Es sind so unwahrscheinlich viele.«
»Also ich …« Erlendur suchte einen Weg, um das zu entschuldigen, was gestern Abend passiert war. »Ich war gestern Abend auf einmal völlig blockiert. Katastrophen und Bergnot. Ich habe nicht ganz die Wahrheit gesagt, als ich dir von meinem Interesse an tödlichen Unfällen und Katastrophen in den
Weitere Kostenlose Bücher