Engelsstimme
ihm begannen ihn zu hänseln. Anfangs war alles noch harmlos. Jeder zog jeden auf, auf dem Schulhof prügelte man sich, und es wurden Streiche gespielt wie in allen Schulen, aber nach zwei Schuljahren, als Guðlaugur elf Jahre alt war, richteten sich die Hänseleien und Streiche fast ausschließlich gegen ihn. Es war nach heutigen Maßstäben keine große Schule. Alle wussten, dass Guðlaugur anders war. Er hatte Musikunterricht und sang mit dem neuen Kinderchor und durfte nie mit den anderen draußen spielen. Er war immer bleich und kränklich. Ein Stubenhocker. Die Jungen in der Klasse und im Viertel hörten allmählich auf, nach ihm zu fragen, fingen stattdessen an, ihm Streiche zu spielen, wenn er in die Schule kam. Sein Tornister verschwand oder war leer, wenn er ihn aufmachte. Er wurde auf der Straße geschubst, bis er hinfiel, seine Sachen wurden zerrissen, er wurde verprügelt. Er bekam Spitznamen verpasst. Er wurde nie zu Kindergeburtstagen eingeladen.
Guðlaugur wusste nicht, wie er sich dagegen wehren sollte. Er begriff nicht, was um ihn herum vor sich ging. Sein Vater beschwerte sich beim Rektor, der versprach, einzugreifen, aber das stand nicht in seiner Macht, und Guðlaugur kam weiterhin mit zerrissenen Sachen und leerem Tornister nach Hause. Sein Vater überlegte, ihn von der Schule zu nehmen oder sogar aus der Stadt zu ziehen, aber weil er so starrköpfig war, wollte er nicht klein beigeben, denn er hatte den Kinderchor mit aufgebaut und er war zufrieden mit dem jungen Mann, der den Chor leitete. Der Chor war wichtig für Guðlaugur, er war hervorragend dazu geeignet, um sich zu üben und mit der Zeit das gebührende Aufsehen zu erregen. »Der Junge war dem Mobbing, ein Wort, das es damals gar nicht gab«, erklärte Elínborg, »schutzlos ausgesetzt.«
Seine Reaktion war die totale Kapitulation, er wurde verschlossen und eigenbrötlerisch, konzentrierte sich auf den Gesang und auf das Klavier und schien auf diese Weise eine gewisse Seelenruhe zu finden. Da wenigstens verlief alles nach Wunsch, dort sah er, wessen er fähig war. Aber die meiste Zeit ging es ihm nicht gut. Als schließlich seine Mutter starb, begann er seelisch zu verkümmern.
Man sah ihn immer nur alleine durch die Straßen gehen, und er versuchte zu lächeln, wenn er Kindern aus der Schule begegnete. Er sang auf einer Schallplatte, die in den Zeitungen besprochen wurde. Sein Vater schien also Recht behalten zu haben. Aus Guðlaugur würde etwas ganz Besonderes werden.
Eine Schulkameradin, die mit ihren Eltern im Stadtkino gewesen war, hatte angefangen zu weinen, während viele andere lachten, als der Chorleiter und Guðlaugurs Schwester ihn von der Bühne führten.
Und kurze Zeit danach, kaum jemand wusste, warum, hatte er einen neuen Spitznamen im Viertel bekommen.
»Wie wurde er genannt?«, fragte Erlendur.
»Der Rektor wusste es nicht«, entgegnete Elínborg, »und seine ehemaligen Schulkameraden konnten sich entweder nicht daran erinnern oder wollten nicht mit der Sprache heraus. Aber es hatte fatalen Einfluss auf den Jungen. Darüber waren sich alle einig.«
»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Erlendur, der auf einmal zu sich zu kommen schien.
»Es ist wahrscheinlich schon nach sieben«, sagte Elínborg. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Verdammt, ich habe den ganzen Tag verschlafen«, sagte Erlendur und sprang auf. »Ich muss Henry finden. Ihm sollte mittags die Speichelprobe entnommen werden, da war er aber nirgendwo im Hotel aufzutreiben.«
Elínborg blickte auf den Schallplattenspieler, die Lautsprecher und die Platten.
»Ist er tatsächlich gut?«
»Er ist großartig«, sagte Erlendur. »Du solltest ihn dir anhören.«
»Ich muss sehen, dass ich nach Hause komme«, sagte Elínborg, die ebenfalls aufgestanden war. »Willst du etwa zu Weihnachten hier im Hotel bleiben? Willst du wirklich nicht nach Hause gehen?«
»Ich weiß noch nicht«, sagte Erlendur. »Ich schau mal.«
»Du bist bei mir zu Hause willkommen, das weißt du. Bei mir gibt’s Weihnachtsschinken. Und außerdem Rinderzunge.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Erlendur und öffnete die Tür. »Geh jetzt nach Hause, ich kümmere mich um Henry.«
»Was hat Sigurður Óli den ganzen Tag gemacht?«, fragte Elínborg.
»Er wollte bei der britischen Polizei etwas über Wapshott in Erfahrung bringen. Wahrscheinlich ist er aber inzwischen schon zu Hause.«
»Warum ist es hier drinnen bei dir so kalt?«
»Der Heizkörper ist kaputt«, sagte
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