Engelsstimme
auf ihn. Sie hatte sich an die Wand gelehnt, die Knie unter dem Kinn, und Erlendur hatte den Eindruck, als schliefe sie. Sie schaute hoch, als er sich näherte, streckte die Beine aus und setzte sich.
»Mann, wie voll cool ich das finde, hier in das Hotel zu kommen«, sagte sie. »Willst du nicht bald den Abflug von hier machen?«
»Ich habe es vor«, sagte Erlendur. »So langsam habe ich diesen Kasten hier satt.«
Er steckte die Karte in das elektronische Türschloss, die Tür ging sofort auf. Eva Lind erhob sich und folgte ihm ins Zimmer, wo sie sich gleich der Länge nach aufs Bett warf. Er selbst nahm an dem kleinen Schreibtisch Platz.
»Kommst du endlich voran mit deinem Case?«, fragte Eva bäuchlings auf dem Bett, die Augen geschlossen, so als würde sie versuchen, einzuschlafen.
»Langsam, aber sicher«, sagte Erlendur. »Warum musst du unbedingt solche Worte wie ›Case‹ verwenden? Was spricht dagegen zu sagen: Kommst du vorwärts mit deinem Fall?«
»Mannomann«, sagte Eva Lind immer noch mit geschlossenen Augen. Erlendur lächelte. Er betrachtete seine Tochter auf dem Bett und überlegte, wie er sich wohl als Erzieher verhalten hätte. Hätte er große Anforderungen an sie gestellt? Hätte er sie für Ballettstunden angemeldet? Sie dazu ermuntert, Klavierstunden zu nehmen? Gehofft, dass sie ein Genie werden würde? Hätte er sie zusammengeschlagen, wenn ihr eine Likörflasche aus der Hand gefallen wäre?
»Bist du noch da?«, fragte sie mit geschlossenen Augen.
»Ja, ich bin hier«, sagte Erlendur müde.
»Warum sagst du nichts?«
»Was soll ich sagen? Wozu muss man immer was sagen?« »Na ja, beispielsweise, was du eigentlich hier in diesem Hotel machst. Im Ernst.«
»Ich weiß es nicht. Ich hatte keine Lust, in meine Wohnung zu gehen. Es ist irgendwie eine kleine Abwechslung.«
»Abwechslung? Was ist der Unterschied, allein in diesem Zimmer hier rumzuhängen oder allein bei sich zu Hause zu hocken?«
»Willst du ein bisschen Musik hören?«, fragte Erlendur und versuchte, vom Thema abzulenken. Er fing an, seiner Tochter den Fall Stück für Stück darzulegen und sich dabei gleichzeitig selber einen Überblick zu verschaffen. Er erzählte ihr von dem Mädchen, das den erstochenen Weihnachtsmann gefunden hatte, der seinerzeit ein Chorknabe mit einer ungewöhnlich schönen und viel versprechenden Stimme gewesen war. Zwei Platten von ihm waren unter Sammlern gesuchte Objekte. Seine Stimme war einmalig.
Er streckte die Hand nach der Platte aus, die er noch nicht gehört hatte. Es waren zwei Kirchenlieder darauf. Die Platte war ganz offensichtlich zu Weihnachten herausgegeben worden. Vorne auf der Hülle war Guðlaugur mit einer Weihnachtsmannmütze und lächelte breit mit etwas vorspringenden Zähnen. Erlendur dachte an die Ironie des Schicksals. Er legte die Platte auf, und die Stimme des Chorknaben erfüllte das Zimmer, ein wunderschönes, wehmütiges Lied. Eva Lind machte die Augen auf und richtete sich auf.
»Ist das dein Ernst?«, fragte sie.
»Findest du das nicht großartig?«
»Ich habe noch nie ein Kind so schön singen gehört«, sagte Eva. »Ich glaube, ich habe noch nie überhaupt jemanden so schön singen gehört.« Sie saßen schweigend da und hörten sich das Lied an. Erlendur streckte sich nach dem Plattenspieler aus, drehte die Platte um und spielte das Lied auf der anderen Seite. Sie hörten zu, und als es zu Ende war, bat Eva Lind darum, die erste Seite noch einmal aufzulegen.
Erlendur erzählte ihr von Guðlaugurs Familie, von dem Konzert im Stadtkino, und dass Vater und Schwester mehr als dreißig Jahre lang keinerlei Verbindung zu ihm gehabt hatten, und von dem englischen Sammler, der zu türmen versucht hatte und sich einzig und allein für Chorknaben interessierte. Er sagte ihr, dass die Platten von Guðlaugur heutzutage sehr wertvoll wären.
»Meinst du, dass er vielleicht deswegen abgemurkst worden ist?«, fragte Eva Lind. »Wegen der Platten? Weil sie heutzutage wertvoll sind?«
»Ich weiß es nicht.«
»Gibt es da überhaupt noch welche?«
»Ich glaube nicht«, sagte Erlendur, »und wahrscheinlich sind die paar, die es noch gibt, deswegen so wertvoll und gefragt. Elínborg sagt, dass Sammler nach Objekten suchen, die einmalig sind auf der Welt. Aber das muss nicht unbedingt eine Rolle spielen. Vielleicht war es jemand hier im Hotel, der ihn überfallen hat. Jemand, der überhaupt nichts von dem Chorknaben wusste.«
Erlendur beschloss, seiner Tochter zu
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