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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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der Hverfisgata. Sie selber begleitete ihn zur Zelle und verschloss höchstpersönlich die Zellentür. Sie öffnete die Klappe an der Tür und schaute zu dem Mann herein, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte und ihr den Rücken zukehrte, unglücklich und irgendwie hilflos, wie alle, die aus der menschlichen Gesellschaft herausgeholt und wie Tiere in einen Käfig gesperrt werden.
    Er drehte sich langsam um und schaute ihr durch die Stahltür in die Augen, sie ließ die Klappe herunterfallen.
    Am nächsten Morgen begannen sie sehr zeitig mit dem Verhör. Erlendur war ebenfalls anwesend, aber Elínborg hatte die Gesprächsführung. Sie saßen ihm zu zweit im Verhörraum gegenüber. Auf dem Tisch zwischen ihnen war ein Aschenbecher fest in die Tischplatte geschraubt. Der Mann war unrasiert, und sein Anzug hatte Falten bekommen. Zu dem weißen zerknautschten Hemd trug er eine tadellos geknotete Krawatte, in der sich das zu konzentrieren schien, was von seiner Selbstachtung übrig geblieben war.
    Elínborg schaltete das Tonbandgerät ein und nahm das Gespräch auf. Sie sprach die Namen der Anwesenden auf Band und die Nummer, die der Fall erhalten hatte. Sie war gut vorbereitet. Sie hatte einen Termin mit der Klassenlehrerin des Jungen gehabt, die Dyslexie, Konzentrationsschwäche und geringe Lernerfolge erwähnte, und sie hatte eine Psychologin befragt, mit der sie befreundet war, die ihr einiges über Enttäuschung, Belastung und Selbstverleugnung erzählte; sie hatte mit den Freunden des Jungen gesprochen, mit Nachbarn, Verwandten und allen möglichen Leuten, von denen sie Auskünfte über den Jungen und seinen Vater erhalten hatte.
    Der Mann blieb unbeirrbar. Er behauptete, dass sie ein Kesseltreiben gegen ihn inszenierten, und gab zu Protokoll, dass er sie gerichtlich belangen werde. Er weigerte sich, ihre Fragen zu beantworten. Elínborg blickte Erlendur an. Ein Wärter erschien und führte den Mann in seine Zelle zurück.
    Zwei Tage später wurde er wieder zu einem Verhör geholt. Sein Rechtsanwalt hatte ihm bequemere Sachen gebracht, er trug jetzt Jeans und ein T-Shirt mit einem modischen Label auf der Brust, das er so präsentierte, als hätte er für diesen absurd teuren Kauf eine Medaille bekommen. Sein Auftreten hatte sich deutlich verändert. Drei Tage Untersuchungshaft hatten sein Imponiergehabe um einiges verringert – ein bekanntes Phänomen bei Gefängnisinsassen. Er sah, dass es von ihm selber abhing, ob und wie lange er hinter schwedischen Gardinen sitzen würde.
    Elínborg hatte veranlasst, dass er barfuß zur Vernehmung erschien. Schuhe und Socken wurden ihm ohne Kommentar weggenommen. Als er vor ihnen Platz nahm, versuchte er, die Füße unter dem Stuhl zu verstecken.
    Wie zuvor saßen Elínborg und Erlendur ihm unbeirrt gegenüber. Das Band summte leise.
    »Ich habe mit der Lehrerin gesprochen, die deinen Sohn unterrichtet«, sagte Elínborg. »Selbst wenn das, was zwischen euch vorgefallen und gesagt worden ist, strengstens vertraulich ist und sie das auch besonders betont hat, wollte sie dem Jungen helfen, es handelt sich ja schließlich um eine Strafsache. Sie hat mir gesagt, dass du einmal in ihrer Anwesenheit über den Jungen hergefallen bist.«
    »Über ihn hergefallen! Ich habe ihm eins hinter die Löffel gegeben. Das nennt man wohl kaum ›über einen herfallen‹. Er war ganz einfach bockig. Er ist so zapplig. Er ist ein schwieriger Junge. Ihr kennt das nicht. Es ist nicht einfach mit ihm.«
    »Und dann ist es richtig, ihn zu schlagen?«
    »Mein Junge und ich sind gute Freunde«, sagte der Vater. »Ich liebe meinen Sohn. Ich trage ganz allein die Verantwortung für ihn. Seine Mutter …«
    »Ich weiß«, sagte Elínborg. »Keine Frage, es kann sehr schwierig sein, ein Kind allein zu erziehen. Aber das, was du ihm angetan hast – und antust … das kann man gar nicht in Worte fassen.«
    Der Vater schwieg sich aus.
    »Ich habe nichts getan«, erklärte er schließlich.
    Elínborg trug kantige Schuhe mit harten Sohlen. Sie streckte die Beine unter dem Tisch aus und stieß an die Füße des Mannes, der vor Schmerz aufschrie.
    »Entschuldigung«, sagte Elínborg.
    Er schaute sie mit schmerzverzerrtem Gesicht an, er war sich offenbar nicht sicher, ob sie ihn möglicherweise absichtlich getreten hatte.
    »Die Lehrerin sagte mir, dass du unrealistische Anforderungen an den Jungen stellst«, sagte sie, so als sei nichts vorgefallen. »Stimmt das?«
    »Was heißt hier unrealistisch? Ich will, dass

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