Engelsstimme
Wären auch deine Sünden rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee.
»Ich glaube, ich bin dabei, mich auszuklinken«, sagte Eva Lind. Da war keine Spannung in der Stimme, keine Energie.
»Vielleicht kannst du das alles einfach nicht ganz alleine schaffen«, sagte Erlendur. Er hatte seiner Tochter schon oft zugeredet, Hilfe in Anspruch zu nehmen. »Vielleicht sollte jemand anderes als ich versuchen, dir zu helfen.«
»Komm mir bloß nicht mit dieser Psycho-Kacke«, sagte Eva Lind.
»Du hast dich noch immer nicht richtig erholt, und dir geht es augenscheinlich nicht gut. Es wird nicht mehr lange dauern, bis du die Schmerzen auf die altbekannte Weise zu betäuben versuchst, und dann steckst du wieder in derselben Scheiße wie vorher.«
»Ewig musst du predigen«, sagte Eva Lind aufbrausend. Sie sprang auf.
Er beschloss, nicht um die Dinge herumzureden.
»Du würdest das Kind im Stich lassen, das gestorben ist.« Eva Lind starrte ihren Vater an, die Augen schwarz vor Wut.
»Die andere Möglichkeit, die du hast, ist, dieses Scheißleben, wie du dich ausdrückst, in Angriff zu nehmen und die Schmerzen zu ertragen, die damit verbunden sind. Die Widerstände, mit denen wir alle zu kämpfen haben, immer, die ganze Zeit, um das alles durchzustehen. Aber doch auch, um das Glück und die Freuden zu genießen, die es trotz allem auch gibt, dadurch, dass wir existieren.«
»Und das sagst ausgerechnet du! Du traust dich ja nicht mal zu Weihnachten zu dir nach Hause, weil da nichts ist! Überhaupt gar nichts, total empty, und du weißt, dass es nur eine olle Bude ist, und du hast keinen Bock, dich da zu verkriechen.«
»Ich bin Weihnachten immer bei mir zu Hause«, sagte Erlendur.
Eva Lind zögerte. Sie verstand nicht, was er meinte.
»Wie meinst du das eigentlich?«
»Das ist das Schlimmste an Weihnachten«, sagte Erlendur. »Ich gehe dann immer nach Hause.«
»Ich versteh dich nicht«, sagte Eva Lind und öffnete die Tür. »Ich werde dich nie verstehen.«
Sie knallte die Tür hinter sich zu. Erlendur stand auf und wollte erst hinter ihr herlaufen, aber er ließ es bleiben. Er wusste, dass sie wiederkommen würde. Er ging zum Fenster und schaute auf sein Spiegelbild in der Scheibe, bis er hindurchsehen konnte, in die Finsternis hinaus auf die Schneeflocken, die glitzerten.
Er hatte vergessen, dass er wieder zurück in seine Wohnung wollte, die ›empty‹ war, wie Eva Lind sich ausdrückte. Er wandte sich vom Fenster ab, legte die Platte mit den Kirchenliedern wieder auf und lauschte dem Jungen, der viele, viele Jahre später von allen vergessen ermordet in einem Hotel aufgefunden wurde, von allen vergessen, und er dachte an Sünden, weiß wie Schnee.
Vierter Tag
Siebzehn
Als er am frühen Morgen aufwachte, lag er angezogen auf dem Bett. Er brauchte lange, um richtig wach zu werden. Er hatte von seinem Vater geträumt, und dieser Traum folgte ihm in diesen dunklen Morgen. Er versuchte angestrengt, sich zu erinnern, was genau er geträumt hatte, konnte aber nur Bruchstücke zusammenfügen; sein Vater, irgendwie jünger und gesünder, lächelte ihm aus einem abgestorbenen Wald entgegen.
Das Hotelzimmer war dunkel und kalt. Bis zum Sonnenaufgang waren es noch einige Stunden. Er lag da und dachte über den Traum nach, über seinen Vater und den Verlust des Bruders. Wie der grausame Verlust eine Lücke in sein Leben gerissen hatte. Diese Lücke schien immer größer zu werden, er stand am Rand und schaute hinunter in den Abgrund, der nur darauf wartete, ihn zu verschlingen.
Er schüttelte diese morgendliche Unruhe von sich ab und überlegte, was heute alles anlag. Was hatte Henry Wapshott zu verbergen? Weswegen hatte er ihm diese Lügen aufgetischt und die Flucht ergriffen, betrunken und ohne Gepäck? Sein Verhalten war Erlendur ein Rätsel. Und dann kehrten seine Gedanken zu dem Jungen im Krankenbett und seinem Vater zurück; Elínborgs Fall, über den sie ihm ausführlich berichtet hatte.
Elínborg hatte den Verdacht, dass der Junge schon früher einmal misshandelt worden war, und es gab starke Indizien dafür, dass es bei ihm zu Hause geschehen war. Der Vater stand unter Verdacht. Sie hatte sofortige Untersuchungshaft für ihn beantragt. Trotz heftigen Protestes seitens des Vaters und seines Rechtsanwalts waren acht Tage Untersuchungshaft verhängt worden. Als der Haftbefehl vorlag, holte Elínborg ihn im Gefolge von vier uniformierten Polizisten ab und brachte ihn ins Untersuchungsgefängnis an
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