Engelsstimme
zum ersten Mal getroffen, und da habe ich nach dir gesucht. Das mit deinem Bruder ist das Einzige, was ich über dich weiß, abgesehen davon, dass du ein Bulle bist. Ich habe nie kapiert, wie du mich und Sindri hast verlassen können, wir waren doch deine Kinder.«
»Ich habe das völlig deiner Mutter überlassen. Vielleicht hätte ich mehr Druck wegen des Umgangsrechts machen und kämpfen sollen, aber …«
»Du hattest kein Interesse daran«, führte Eva den Satz zu Ende.
»Das stimmt nicht.«
»Doch. Warum? Warum hast du dich nicht ganz normal um deine Kinder gekümmert?«
Erlendur schwieg und schaute zu Boden. Eva machte die dritte Zigarette aus. Dann stand sie auf, ging zur Tür und öffnete sie.
»Stína kommt morgen hier zu dir ins Hotel«, sagte sie. »Mittags. Du kannst sie nicht übersehen mit ihrem neuen Busen.«
»Danke, dass du mit ihr gesprochen hast.«
»Keine Ursache«, sagte Eva.
Sie blieb zögernd in der Tür stehen.
»Was willst du?«, fragte Erlendur.
»Ich weiß es nicht.«
»Nein, ich meine als Weihnachtsgeschenk.«
Eva schaute zu ihrem Vater hinüber.
»Ich wollte, ich dürfte mein Kind bei mir haben«, sagte sie und machte leise die Tür hinter sich zu.
Erlendur seufzte tief auf und saß lange Zeit auf der Bettkante, bevor er mit den Videoaufzeichnungen weitermachte. Menschliche Wesen, die vor Weihnachten viel zu erledigen hatten, irrten über den Schirm, viele hatten volle Taschen und Tüten vom Weihnachtseinkauf dabei.
Er war beim fünften Tag vor dem Mord angekommen, als er sie erblickte. Erst hatte er sie übersehen, aber irgendwo klickte es bei ihm, er stoppte die Kassette, spulte zurück und ließ die Sequenz wieder ablaufen. Nicht das Gesicht hatte seine Aufmerksamkeit erweckt, sondern ihr Auftreten, ihr Gang und die herausfordernd arrogante Haltung. Er drückte wieder auf ›Play‹ und sah sie jetzt deutlich, wie sie ins Hotel hineinging. Er spulte im Schnellvorlauf weiter, bis sie eine halbe Stunde später wieder auf dem Schirm erschien; sie kam aus dem Hotel und ging rasch an der Bank und den Souvenirläden vorbei, ohne nach rechts oder links zu blicken.
Er stand auf und starrte auf den Bildschirm.
Auf Guðlaugurs Schwester.
Die ihren Bruder angeblich jahrzehntelang nicht gesehen hatte.
Fünfter Tag
Zweiundzwanzig
Das Geräusch weckte Erlendur spät am nächsten Morgen. Er brauchte lange Zeit, um nach einer traumlosen Nacht wach zu werden, und er wusste überhaupt nicht, was für ein grässlicher Krach da in seinem kleinen Zimmer war. Er hatte sich bis in die frühen Morgenstunden eine Kassette nach der anderen angeschaut, aber die Schwester von Guðlaugur war nur an diesem einen Tag aufgetaucht. Erlendur zog überhaupt nicht in Betracht, dass sie aus purem Zufall in das Hotel gekommen war, dass sie aus einem anderen Grund ins Hotel gekommen war, als ihren Bruder zu treffen, von dem sie behauptete, dass sie ihn so lange nicht gesehen hätte.
Erlendur war auf eine Lüge gestoßen, und er wusste, dass für eine Ermittlung nichts wertvoller sein konnte als Lügen.
Der Lärm ließ nicht nach, und allmählich dämmerte es Erlendur, dass es das Telefon war. Er streckte die Hand nach dem Hörer aus, am anderen Ende war die Stimme des Hotelmanagers.
»Du musst in die Küche kommen«, sagte der Hotelmanager. »Da ist ein Mann, mit dem du reden solltest.«
»Wer ist das?«, fragte Erlendur.
»Ein junger Mann, der an dem Tag, als wir Guðlaugur gefunden haben, früher nach Hause ging, weil er sich krank fühlte«, sagte der Hotelmanager. »Du solltest herunterkommen.«
Erlendur stand auf. Er war vollständig angezogen. Er ging ins Bad, schaute in den Spiegel und sah einige Tage alte Bartstoppeln, die sich anhörten wie Sandpapier auf grobem Holz, als er drüberstrich. Sein Bart war dicht und grob wie der seines Vaters.
Bevor er nach unten ging, rief er Sigurður Óli an und beauftragte ihn, mit Elínborg nach Hafnarfjörður zu fahren und die Schwester von Guðlaugur zur Vernehmung in das Hauptdezernat an der Hverfisgata zu bringen. Dort würde er sich später am Tag mit ihnen treffen. Er gab keine Erklärungen darüber ab, warum sie vernommen werden sollte, denn er wollte nicht, dass sie aus irgendwelchen Andeutungen auf den Grund der Vorladung schließen konnte. Er wollte die Miene dieser Frau sehen, wenn sie erfuhr, dass er über ihren Versuch, ihn hinters Licht zu führen, Bescheid wusste.
Als Erlendur in die Küche kam, stand der Hotelmanager bei einem extrem
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