Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
Vom Netzwerk:
brachte ihn mit ihrer Direktheit aus der Fassung. Hin und wieder, aber sehr viel seltener, kam es auch vor, dass sie etwas feinfühliger vorging.
    Als Eva nach der Fehlgeburt im Koma auf der Intensivstation lag und ihr Arzt zu Erlendur gesagt hatte, er solle so viel Zeit wie möglich bei ihr verbringen und mit ihr reden, war es der Verlust seines Bruders gewesen, worüber Erlendur damals zu Eva gesprochen hatte. Und wie er selbst gerettet worden war. Als Eva wieder zu Bewusstsein gekommen war, aus dem Krankenhaus durfte und zu ihm gezogen war, fragte er sie, ob sie wüsste, was er ihr im Krankenhaus erzählt hatte, aber sie konnte sich an nichts erinnern. Dadurch war aber ihre Neugier geweckt worden, und sie setzte ihm so lange zu, bis er das wiederholte, was er im Krankenhaus gesagt hatte. Nie zuvor hatte er zu einem anderen darüber gesprochen, und niemand wusste davon. Er hatte ihr gegenüber nie seine Vergangenheit erwähnt, und Eva, die ihn unermüdlich zur Verantwortung ziehen wollte, fand, dass sie ihm ein wenig näher gekommen war. Es kam ihr so vor, als hätte sie ihren Vater ein wenig besser kennen gelernt, obwohl sie wusste, dass sie noch weit entfernt davon war, ihn ganz und gar zu verstehen. Die bohrende Frage, die Eva seit jeher zu schaffen machte und ihr Verhältnis mehr als alles andere überschattete, war immer noch unbeantwortet. Scheidungen waren gang und gäbe, das war ihr klar. Die Leute ließen sich dauernd scheiden, und manche Scheidungen waren schlimmer als andere, weil die Leute nicht miteinander reden konnten. Das war ihr bewusst, und es machte ihr auch keine Probleme. Aber es war und blieb ihr ein vollkommenes Rätsel, weswegen Erlendur auch seine Kinder verlassen hatte. Weswegen er nach der Trennung überhaupt nicht mehr an ihrem Leben interessiert gewesen war. Weswegen er sich nie um sie gekümmert hatte, bis Eva ihn aufgespürt und ganz allein in seiner dunklen Behausung gefunden hatte. Über all das hatte sie mit ihrem Vater geredet, der aber bislang keine Antworten auf ihre Fragen gehabt hatte.
    »Tollere Geschenke?«, sagte er. »Es waren immer die gleichen Sachen. Eigentlich genau wie in dem alten Gedicht: Kerzen und ein Kartenspiel . Man hätte sich wohl manchmal etwas Spannenderes gewünscht, aber unsere Familie war arm. Damals waren alle arm.«
    »Aber nachdem dein Bruder gestorben war?«
    Erlendur schwieg.
    »Erlendur?«, sagte Eva.
    »Es hat kein Weihnachten mehr gegeben, nachdem er fort war«, sagte Erlendur.
     
    Das Fest zur Erinnerung an die Geburt des Erlösers wurde nicht mehr gefeiert, nachdem sein Bruder in den Bergen verschollen war. Etwas mehr als ein Monat war seitdem vergangen, und bei ihnen zu Hause gab es keine Freude, keine Geschenke und keine Gäste mehr. Sonst waren die Verwandten mütterlicherseits Heiligabend zu Besuch gekommen, und dann wurden Weihnachtslieder gesungen. Das Haus war klein, die Leute saßen dicht beieinander und strahlten Wärme und Helligkeit aus. Seine Mutter lehnte in diesem Jahr Weihnachtsbesuche kategorisch ab. Sein Vater litt unter schweren Depressionen und lag die meisten Tage im Bett. Er hatte nicht an der Suche nach seinem Sohn teilgenommen, als hätte er gewusst, dass es hoffnungslos war, als hätte er gewusst, dass er versagt hatte. Sein Sohn war tot, und weder er noch irgendein anderer konnten jemals etwas daran ändern. Er allein trug die Schuld daran und niemand anderes.
    Seine Mutter war unermüdlich. Sie sorgte dafür, dass Erlendur nach besten Kräften hochgepäppelt wurde. Sie ermunterte die Suchmannschaften, weiterzumachen, und sie nahm selber an der Suche teil. Erst wenn die Dunkelheit hereinbrach, kam sie herunter ins Tal, und sie machte sich als Erste wieder auf den Weg in die Berge, sobald es hell wurde. Selbst als feststand, dass ihr Sohn nicht mehr am Leben sein konnte, suchte sie mit der gleichen Intensität weiter. Erst als der Winter hereingebrochen war, als eine dicke Schneedecke lag und das Wetter immer unbeständiger wurde, gab sie auf und musste sich mit der Tatsache abfinden, dass ihr Sohn in den Bergen umgekommen war und sie bis zum Frühjahr warten musste, um eine erneute Suche nach seinen sterblichen Überresten zu beginnen. Sie schaute hoch zu den Bergen, manchmal stieß sie Verwünschungen aus. Mögen euch die Trolle verschlingen, die ihr mir den Sohn genommen habt.
    Der Gedanke an den toten Bruder oben in den Bergen war nicht zu ertragen, und Erlendur begann, ihn in Albträumen zu sehen, aus denen er

Weitere Kostenlose Bücher