Engelsstimme
schreiend und weinend hochschreckte; er sah ihn gegen den Schneesturm ankämpfen, er kam nicht mehr vorwärts in den tiefen Wehen, er hatte den schmalen Rücken in den Wind gekehrt, und der Tod stand an seiner Seite.
Erlendur begriff nicht, wie sein Vater zu Hause bleiben und gar nichts unternehmen konnte, während andere bis zur Erschöpfung suchten. Das tragische Ereignis schien ihn völlig zerbrochen und in ein teilnahmsloses Wrack verwandelt zu haben. Erlendur grübelte lange darüber, welche Macht die Trauer hatte, denn sein Vater war ein starker und robuster Mann gewesen. Der Verlust des Sohns nahm ihm nach und nach alle Lebenskraft, und er erholte sich nie wieder davon.
Später, eine geraume Zeit war vergangen, kam es zum ersten und einzigen Mal zu einem Streit zwischen seinen Eltern, und Erlendur erfuhr, dass seine Mutter damals nicht gewollt hatte, dass sein Vater an diesem Tag in die Berge ging, aber er hatte das in den Wind geschlagen. Aber, hatte sie gesagt, falls du unbedingt losziehen willst, die Jungen nimmst du nicht mit. Er hörte nicht auf sie.
Seitdem war Weihnachten nie wieder dasselbe Fest gewesen. Seine Eltern söhnten sich mit der Zeit auf eine gewisse Weise miteinander aus. Sie kam nie darauf zu sprechen, dass er gegen ihren Willen gehandelt hatte. Er wiederum kam nie darauf zu sprechen, dass es eine Trotzreaktion gewesen war, weil er sich von ihr keine Vorschriften machen lassen wollte. Das Wetter war gut, und er fand, dass sie sich in seine Angelegenheiten einmischte. Sie zogen es vor, nie wieder über das zu reden, was zwischen ihnen vorgefallen war, bevor das Unglück geschah, es war, als würde sie nichts mehr miteinander verbinden, wenn das Schweigen gebrochen würde. In diesem Schweigen kämpfte Erlendur mit den Schuldgefühlen, die ihn überfielen, weil er mit dem Leben davongekommen war.
»Warum ist es hier drinnen so kalt?«, fragte Eva Lind und zog die Jacke enger um sich.
»Das liegt am Heizkörper«, sagte Erlendur. »Der wird einfach nicht warm. Gibt’s was Neues bei dir?«
»Nichts. Mama hat sich wieder so einen Kerl zugelegt, den sie in so einer Tanzbar für Gruftis aufgerissen hat, bei Akkordeonmusik. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein total durchgeknallter Zombie das ist. Ich glaube, der benutzt immer noch Brillantine, und dann macht er sich so eine Tolle und trägt Hemden mit Riesenkragen, und wenn er diese gammligen Schnulzen im Radio hört, schnipst er mit den Fingern. Meine Heimat ist das Meer …«
Erlendur grinste. Eva zog sonst nicht über andere Leute her, nur über diese »Typen« im Leben ihrer Mutter, die von Jahr zu Jahr schlimmer zu werden schienen.
Dann schwiegen sie wieder.
»Ich versuche gerade, mich zu erinnern, wie ich war, als ich acht Jahre alt war«, sagte Eva plötzlich. »Ich kann mich eigentlich an nichts außer meinen Geburtstag erinnern. Ich kann mich noch nicht mal an die Geburtstagsparty erinnern, nur an den Tag, an dem ich Geburtstag hatte. Ich stand auf dem Parkplatz vor dem Haus und wusste, dass ich Geburtstag hatte und acht Jahre alt geworden war, und irgendwie verfolgt mich diese Erinnerung, obwohl sie total unbedeutend ist. Bloß, dass ich da stand und wusste, dass ich Geburtstag hatte und acht Jahre alt war.«
Sie schaute Erlendur an.
»Du hast gesagt, dass er acht Jahre alt war. Als er umkam.« »Er hatte im Sommer Geburtstag gehabt.«
»Weshalb wurde er nie gefunden?«
»Ich weiß es nicht.«
»Also ist er immer noch da oben in den Bergen.«
»Ja.«
»Seine Knochen.«
»Ja.«
»Acht Jahre alt.«
»Ja.«
»War es deine Schuld? Dass er umgekommen ist?«
»Ich war zehn Jahre alt.«
»Ja, aber …«
»Niemand hatte Schuld.«
»Aber du musst doch gedacht haben …«
»Worauf willst du hinaus, Eva? Was willst du wissen?«
»Warum hast du nie Verbindung zu mir und Sindri gehabt, nachdem du uns verlassen hast?«, fragte Eva Lind. »Warum hast du nicht versucht, mit uns zusammen zu sein?«
»Eva …«
»Wir waren es nicht wert, war es das?«
Erlendur schwieg und schaute aus dem Fenster. Es hatte wieder angefangen zu schneien.
»Du versuchst, einen Zusammenhang zwischen beidem zu sehen«, sagte er schließlich.
»Ich habe nie eine Erklärung dafür bekommen. Mir ist eingefallen …«
»Dass es irgendwas mit meinem Bruder zu tun hat? Wie er umgekommen ist? Willst du da einen Zusammenhang sehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Eva. »Ich kenne dich überhaupt nicht. Ich habe dich erst vor ein paar Jahren
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