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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Eingang benutzte. Er erkannte den Hotelmanager und den Empfangschef. Als er sah, wie Ösp hinaushuschte, dachte er daran, dass sie nach einem solchen Arbeitstag bestimmt froh war, nach Hause zu kommen. Einmal tauchte Guðlaugur beim Eingang auf, und Erlendur verlangsamte die Geschwindigkeit der Wiedergabe. Der Portier war allein unterwegs, ging ruhigen Schritts an der Kamera vorbei, warf einen Blick in die Bankfiliale, drehte sich um und schaute zu dem Souvenirladen hinüber, um dann ins Hotel zurückzukehren. Erlendur spulte zurück und schaute sich Guðlaugur noch einmal an, dann noch einmal und schließlich ein viertes Mal. Es berührte ihn seltsam, ihn am Leben zu sehen. Er stoppte das Bild, als Guðlaugur in die Bank hineinschaute, und betrachtete sein eingefrorenes Gesicht auf dem Bildschirm. Da war der ehemalige Chorknabe. Der Mann, der einmal eine weiche und sehnsuchtsvolle Knabenstimme besessen hatte. Der Junge, der Erlendur dazu gebracht hatte, sich in seine schmerzhaftesten Erinnerungen zu versenken, während er ihm lauschte.
    Als an die Tür geklopft wurde, schaltete er das Gerät ab und öffnete Eva Lind die Tür.
    »Warst du schon eingeschlafen?«, fragte sie und schlüpfte ins Zimmer. »Was für Kassetten sind das?«, fragte sie, als sie die gestapelten Videokassetten sah.
    »Die hängen mit dem Fall zusammen«, sagte Erlendur.
    »Kommst du vorwärts?«
    »Nein. Kein bisschen.«
    »Hast du mit Stína gesprochen?«
    »Stína?«
    »Ich hab dir doch von ihr erzählt. Stína! Du hast mich nach Nutten in den Hotels gefragt.«
    »Nein, ich habe noch nicht mit ihr gesprochen. Aber sag mir etwas anderes, kennst du ein Mädchen, das ungefähr in deinem Alter ist, sie heißt Ösp und arbeitet hier im Hotel? Eure Einstellung zum Leben ist so ziemlich die gleiche.«
    »Was meinst du damit?« Eva Lind bot ihrem Vater eine Zigarette an, zündete sie für ihn an und warf sich dann aufs Bett. Erlendur setzte sich an den Schreibtisch und schaute durch das Fenster in die pechschwarze Nacht. Zwei Tage bis Weihnachten, dachte er. Dann wird alles wieder normal.
    »Eine ziemlich negative«, sagte er.
    »Findest du, dass ich so unheimlich negativ bin?«, fragte Eva Lind.
    Erlendur schwieg, aber Eva Lind verschluckte sich am Rauch und prustete los, sodass ihr der Rauch zur Nase herauskam.
    »So what? Und dagegen bist du wohl die personifizierte Lebenslust?«
    Erlendur grinste.
    »Ich kenne keine Ösp«, sagte Eva. »Was hat die mit der Sache zu tun?«
    »Sie hat nichts mit der Sache zu tun«, sagte Erlendur. »Oder zumindest glaube ich es nicht. Sie hat die Leiche gefunden und scheint das eine oder andere zu wissen, was sich hier im Hotel abspielt. Sie ist nicht dumm. Weiß sich zu helfen und ist nicht auf den Mund gefallen. Sie erinnert mich ein wenig an dich.«
    »Kenn ich nicht«, erklärte Eva. Dann verstummte sie und starrte vor sich hin, ohne ein Wort zu sagen. Er schaute sie an und schwieg ebenfalls, auf diese Weise schritt die Nacht voran. Manchmal hatten sie einander nichts zu sagen. Sie redeten nie über belanglose Dinge. Sie redeten nie über das Wetter oder das Preisniveau in den Geschäften, über Politik oder Sport, oder Klamotten, oder was es auch immer war, womit die Leute sich die Zeit totschlugen. Beide hielten sie das für Zeitverschwendung. Nur sie beide, ihre Vergangenheit und Gegenwart, die Familie, die nie eine war, weil Erlendur sie verlassen hatte. Evas tragische Geschichte und die ihres Bruders, die Feindseligkeit und der Hass ihrer Mutter, nur das spielte für sie eine Rolle, indem es ihre Gespräche beherrschte und auf ihre Beziehung abfärbte.
    »Was soll ich dir zu Weihnachten schenken?«, fragte Erlendur schließlich und unterbrach das Schweigen.
    »Zu Weihnachten?«, fragte Eva.
    »Ja.«
    »Ich brauche nichts.«
    »Irgendwas wirst du doch brauchen können.«
    »Was hast du zu Weihnachten gekriegt? Als du klein warst?«
    Erlendur überlegte. Er konnte sich an Fäustlinge erinnern. »Irgendwelche Kleinigkeiten.«
    »Ich habe immer gefunden, dass Sindri tollere Geschenke bekommen hat als ich«, sagte Eva Lind. »Und dann hat Mama auf einmal aufgehört, mir was zu schenken und hat behauptet, ich würde es nur zu Geld machen, um an Dope ranzukommen. Sie hat mir einmal einen Ring geschenkt, den ich verscherbelt habe. Hat dein Bruder auch tollere Geschenke als du gekriegt?«
    Erlendur spürte, wie sie sich vorsichtig an ihn heranzupirschen versuchte. Meistens kam sie ohne Umschweife zur Sache und

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