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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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wusste, dass er schlicht und einfach nur keine Lust hatte, seine Kräfte darauf zu verschwenden, denn ihre Stimme war nicht außergewöhnlich. Sie hatte nicht die Fähigkeiten ihres Bruders. Sie konnte im Chor singen und auf dem Klavier klimpern, aber sowohl ihr Vater als auch der Klavierlehrer, zu dem er sie geschickt hatte, weil er selbst dafür keine Zeit hatte, behaupteten, dass sie kein musikalisches Talent habe. Ihr Bruder hingegen hatte diese wunderbare Stimme und war überdurchschnittlich musikalisch, aber trotzdem war er auch ein ganz normaler Junge, genau wie sie ein ganz normales Mädchen war. Sie wusste nicht, was sie von ihm unterschied. Er war nicht anders als sie. Sie sorgte bis zu einem gewissen Grade für seine Erziehung, vor allem, nachdem ihre Mutter erkrankt war. Er gehorchte ihr und tat das, was sie sagte, und er hielt große Stücke auf sie. Und auch sie hing an ihm, aber sie konnte die Eifersucht nicht unterdrücken, wenn sich alles immer nur um ihn drehte. Sie hatte Angst vor diesem Gefühl, erwähnte es aber niemandem gegenüber.
    Sie hörte, wie Guðlaugur die Treppe herunterkam, er erschien in der Küche und setzte sich zu seinem Vater.
    »Genau wie Mama«, sagte er, als er sah, wie seine Schwester dem Vater Kaffee einschenkte.
    Er sprach oft über ihre Mutter, und sie wusste, dass er sie unsäglich vermisste. Sie war immer für ihn da gewesen, wenn er mit Enttäuschungen fertig werden musste oder gehänselt worden war – und wenn sein Vater die Geduld verlor. Oder einfach, wenn er jemanden brauchte, der ihn in die Arme nahm, ohne dass es eine besondere Belohnung für seine Leistungen war.
    Erwartungsvolle Spannung und Vorfreude waren den ganzen Tag im Haus zu spüren und kaum noch auszuhalten, als der Abend näher rückte und sie sich fein machten, um ins Stadtkino zu gehen. Sie begleiteten Guðlaugur hinter die Bühne, ihr Vater begrüßte den Chorleiter, dann begaben sie sich in den Saal, der sich mit den Konzertgästen zu füllen begann. Der Saal wurde verdunkelt, der Vorhang ging auf. Guðlaugur, der ziemlich groß für sein Alter war, sah gut aus und wirkte erstaunlich furchtlos da oben auf der Bühne, und endlich begann er mit seiner sehnsuchtsvollen Knabenstimme zu singen.
    Sie hielt den Atem an und schloss die Augen.
    Sie kam erst wieder zu sich, als ihr Vater sie bei der Hand packte und so fest zugriff, dass es wehtat. Sie hörte ihn stöhnen: »Gott im Himmel.«
    Sie öffnete die Augen und sah das leichenblasse Antlitz ihres Vaters. Auf der Bühne versuchte Guðlaugur zu singen, aber da war etwas mit der Stimme passiert. Es hörte sich so an, als jodelte er. Sie stand auf, drehte sich um, schaute in den Saal hinter sich und sah, dass die Leute angefangen hatten, das Gesicht zu einem Grinsen zu verziehen. Einige lachten sogar. Sie rannte, ohne nachzudenken, auf die Bühne zu ihrem Bruder und versuchte, ihn wegzuführen. Der Chorleiter kam ihr zu Hilfe, und es gelang ihnen endlich, ihn hinter die Bühne zu bringen. Sie sah, dass ihr Vater immer noch wie vom Blitz getroffen in der ersten Reihe stand und zu ihnen hochstarrte.
    Vor dem Einschlafen rief sie sich wieder diesen grauenvollen Moment in Erinnerung. Ihr Herz begann zu klopfen, nicht aus Furcht oder Schock über das, was geschehen war, oder weil sie daran dachte, wie ihrem Bruder zumute sein musste, sondern aus einer rätselhaften Freude heraus, die sie sich nicht erklären konnte und am liebsten verdrängen wollte, wie eine böse Tat.
     
    »Hast du Gewissensbisse gehabt wegen dieser Gedanken?«, fragte Erlendur.
    »Sie waren mir völlig fremd«, sagte Stefanía. »Ich hatte noch nie solche Gefühle gehabt.«
    »Ich glaube eigentlich nicht, dass es etwas Unnatürliches ist, sich über den Misserfolg anderer zu freuen«, sagte Erlendur, »auch wenn unsere nächsten Angehörigen betroffen sind. Das können nichtsteuerbare Reaktionen sein, irgendwelche Abwehrmaßnahmen, wenn man einen Schock erlitten hat.«
    »Ich sollte dir vielleicht das nicht alles so detailliert erzählen«, sagte Stefanía. »Kein sehr sympathisches Bild, das du da von mir bekommst. Vielleicht hast du Recht. Wir standen alle unter Schock. Unter einem unglaublichen Schock, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.«
    »Wie war die Verbindung zwischen ihnen nach diesem Vorfall?«, fragte Erlendur. »Zwischen Guðlaugur und seinem Vater?«
    Stefanía beantwortete die Frage nicht.
    »Weißt du, wie es ist, wenn man von niemandem beachtet und geliebt wird?«,

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