Engelstraum: Schatten der Ewigkeit: Roman (German Edition)
nein!« Nicole sprang auf. Ihre Arme pochten vor Schmerz, wie auch ihr Oberkörper, und ihre Kleidung qualmte noch, aber sie schrie, so laut sie konnte.
Keenan blieb nicht stehen.
Sie wusste, dass er es nicht täte, nicht bevor er alle für sie getötet hatte.
War es das, was sie getan hatte: einen Engel in einen Mörder verwandelt?
Sie blies den Atem durch zusammengepresste Lippen aus, weil sie solche Schmerzen hatte, während sie auf den Mann zulief, der am Boden lag. Sie brauchte Blut. Und sie musste seines nehmen. Das war wohl das Mindeste, was der Kerl für sie tun konnte, nachdem er versucht hatte, sie bei lebendigem Leibe zu verbrennen.
Sie sank auf die Knie, griff nach ihm und bemerkte zu spät, dass er tot war.
Seine entsetzten Augen starrten sie an. Sein Mund war weit offen, sein Gesicht eine Maske von Schmerz und Grauen.
Nicole tastete ihn ab: kein gebrochenes Genick, überhaupt keine gebrochenen Knochen. Keine Wunden, kein Blut, nichts.
Und dennoch war er sehr tot.
Sie tastete ihn ab, versuchte zu begreifen, was geschehen war, und zugleich stieg ihr ein neuer Geruch in die Nase: wild, moschusartig, wie von einem Tier.
»Du bist wirklich noch ein Grünling in diesem Spiel, was?« Eine männliche Stimme mit einem Hauch von mexikanischem Akzent. » Querida , du ahnst nicht mal, was ich bin, hab ich recht?«
Sehr vorsichtig drehte sie sich nach rechts. Dort kam ein Mann aus dem Wald, dessen Schultern nach hinten gebogen waren. Ruhig schritt er auf sie zu, ein breites Grinsen auf dem hübschen Gesicht.
Dunkles Haar, dunkle Augen, kantiges Kinn, grausamer Mund.
Ein bekanntes Gesicht.
Mexiko. Carlos.
Die Beute, die sich als Jäger entpuppte. Nicole sprang auf, was sich sofort mit einer fiesen Schmerzwelle rächte. »Was machst du hier?« Blöde Frage. Wie die anderen war auch er hier, um sie zu töten.
Weil sie war, was sie war.
Er grinste noch breiter und musterte sie. »Das sieht aus, als wenn es wehtut.«
Tat es, und es würde auch nicht besser, ehe sie nicht getrunken hatte und ihre Haut zu heilen begann.
»Ist er hinter denen her? Will er sie umbringen … für dich?«
Sie brauchte eine stärkere Waffe als ihre Krallen. »Ich wollte dich an dem Abend nicht verletzen. Ich war nur …«
»Durstig«, beendete er den Satz für sie. Bei seinem Lächeln enthüllte er Zähne, die viel zu scharf für einen Menschen waren.
War er ein Vampir? Nein, einem Vampir wäre egal, ob sie hungrig war.
Er hob eine Hand und zeigte ihr seine Krallen. Es waren keine verlängerten, rasiermesserscharfen Fingernägel wie ihre, sondern richtige Klauen, von der Art, wie Tiere sie hatten.
Oh Mist!
Dieser Geruch, diese Krallen …
»Dämmert’s dir? Hat ja auch lange genug gedauert.« Er kam näher.
Sie brauchte eine Waffe.
Ein paar Flammen züngelten noch am Boden, doch es lag eine zerbrochene Flasche in der Nähe. Die schnappte sie sich und richtete sie auf Carlos. Glas hatte sich schon einmal als nützlich erwiesen.
»Hast du gedacht, dass du als Untote ganz oben in der Nahrungskette stehst?« Er schlug die Zähne zusammen. »Weit gefehlt.«
»Du bist ein Gestaltwandler.« Das hätte sie viel früher erkennen müssen. Aber in Mexiko war sie so ausgehungert gewesen, dass sie den Geruch gar nicht registriert hatte – ein böser Fehler.
»Ja, der bin ich wohl«, antwortete er achselzuckend. »Das Glas da kann mir nichts anhaben. Und im Gegensatz zu dir bin ich tagsüber nicht geschwächt.« Sein Blick fiel auf ihren Hals. »Wenn ich wollte, könnte ich dir gleich jetzt die Kehle aufreißen.«
So schwach wie sie sich fühlte, war das durchaus möglich.
Zehn Tage. Neun, acht … wie viele waren noch übrig?
Ihre Nasenflügel bebten. Roch es nach Blumen? Kam der Duft aus dem Wald oder von etwas anderem?
Ihre Zeit lief ab.
»Aber ich will dich nicht umbringen, jedenfalls noch nicht.« Carlos stürzte sich auf sie, entwand ihr die zerbrochene Flasche und riss Nicole dicht an sich. Die Kollision ihres verbrannten Körpers mit seinen harten Muskeln entlockte ihr einen Schmerzensschrei. Carlos packte sie beim Haar und zog ihren Kopf nach hinten. »Ich hasse Vampire!«
Wer tat das nicht? Sie biss sich auf die Lippe, um nicht wieder aufzuschreien.
»Du schreist also leicht, ja. Das gefällt mir.« Seine Krallen glitten über ihre Wange. »Dann werde ich dich noch ganz viel schreien lassen, bis ich mit dir fertig bin.«
Ihre eigenen Krallen waren vor Wut und Angst ausgefahren, und ihre Zähne brannten.
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